Fall 21 – Discolärm aus der Gaststätte Halligalli

Discolärm aus der Gaststätte Halligalli** –
Udo Kunze* – Online-
Fallbearbeitung***

Den Sachverhalt zum Fall finden Sie in der Ausgabe 05/2022 der Zeitschrift

DVP – Fachzeitschrift für die öffentliche Verwaltung auf Seite 212 ff.

Sollten Sie noch nicht Abonnent der DVP sein, so können Sie hier ein Abonnement bestellen.

* Städt. Direktor a.D. Udo Kunze ist nebenamtlicher Fachlehrer beim Nds. Stu-
dieninstitut für kommunale Verwaltung e.V., Lehrbeauftragter der Kommuna-
len Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen sowie der Hochschule Osna-
brück und Dozent des Kommunalen Bildungswerkes e.V. Berlin.

** Der Fall war Gegenstand der 5-U-Std. umfassenden AII-Klausur im Allge-
meinen Verwaltungsrecht am Lehrgangsort Osnabrück. Das BImSchG und die TA-Lärm sowie die Schutznormtheorie wurden zuvor behandelt.

*** Das Gutachten und die Entwürfe der das Widerspruchsverfahren abschließen-
den Bescheide beziehen sich auf Sachverhalte in der DVP 5-2022, S. 212 ff.

  1. Gutachten

    Mit dem Widerspruch möchten die Widerspruchsführer erreichen, dass die Stadt gegenüber dem Gastwirt eine Anordnung nach dem BImSchG erlässt.

    Dem Widerspruch ist abzuhelfen, wenn dieser zulässig und begrün- det ist.

    Die Entscheidungszuständigkeit richtet sich nach §§ 72, 73 VwGO.

    Die zunächst durchzuführende Abhilfeprüfung nach § 72 VwGO obliegt der Erlassbehörde, also in diesem Fall der Stadt Osnabrück.

    Wenn dem Widerspruch nicht abgeholfen wird, richtet sich die Zuständigkeit für den Erlass des Widerspruchsbescheids nach § 73 Abs. 1 VwGO.

    Die Wahrnehmung der Aufgabe nach dem BImSchG obliegt der sachlich zuständigen Stadt Osnabrück, und zwar im übertragenen Wirkungskreis. Die nächsthöhere Behörde wäre in Niedersachsen wegen des Fehlens einer Mittelbehörde das zuständige Landes- ministerium. Also erlässt die Stadt nach § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO ggf. den Widerspruchsbescheid.

    Zulässigkeit

    Der Widerspruch ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraus- setzungen vorliegen, also (1) im Verwaltungsrechtsweg der Rechts- behelf (2) statthaft ist, er (3) ordnungsgemäß eingelegt wurde und die Widerspruchsführer (4) widerspruchsbefugt sind.

    1. Verwaltungsrechtsweg

      Eine Anordnung nach dem BImSchG ist aufgrund des Subordina- tionsverhältnisses zwischen dem Adressaten und der Behörde dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Weder eine aufdrängende noch eine abdrängende Rechtswegzuweisung ist erkennbar, sodass nach § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg zulässig ist.

    2. Statthaftigkeit

      Die Statthaftigkeit des Widerspruchs richtet sich nach § 68 Abs. 1 VwGO. Dabei ist die Klageart entscheidend, nämlich ob es sich im Falle einer Klage um eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 2 VwGO handelt. Um das zu beurteilen, kommt es auf das Klagebegehren an, also das vom Kläger verfolgte Ziel.

      Dem Rechtsanwalt geht es zwar auch um die Aufhebung des Be- scheids vom 25.2.2021, damit allein ist seinen Mandanten jedoch nicht gedient, weil der Lärm nach Aufhebung der Bescheide nicht unterbunden wird. Demzufolge ist wirksames Klagebegehren der Erlass einer Anordnung, die ein VA nach § 35 Satz 1 VwVfG ist, so- dass eine Verpflichtungsklage die allein zielführende Klageart wäre (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO).

      Der Verpflichtungswiderspruch ist aber nur dann statthaft, wenn keine Ausnahme nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO gesetzlich vor- gesehen ist.

      § 80 Abs. 4 und 1 NJG schließen für eine Verpflichtungsklage ein Vorverfahren aus, es sei denn, nach § 80 Abs. 2 oder Abs. 3 NJG ist eine Rückausnahme anzuwenden. Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 b) NJG gilt der Ausschluss eines Vorverfahrens nicht, wenn es sich um VA handelt, die nach den Vorschriften des BImSchG erlassen werden. Eben darum geht es hier.

      Die vom Rechtsanwalt eingelegten Verpflichtungswidersprüche sind demzufolge statthaft.

    3. Ordnungsgemäße Einlegung

      Widerspruch ist nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO schriftlich und innerhalb eines Monats einzulegen.

      Die Schriftform wurde von Dr. Fuchs beachtet. Die Monatsfrist ist aber offensichtlich abgelaufen, da der Widerspruch erst am 15.4.2021 bei der Stadt einging, der Bescheid aber bereits am 25.2.2021 abgesandt wurde und aufgrund § 41 Abs. 2 Satz 1 VwVfG am 28.2.2021 als bekannt gegeben gilt.

      Die Monatsfrist beginnt aber nach §§ 70 Abs. 2, 58 Abs. 1 VwGO nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den möglichen Rechts- behelf schriftlich belehrt worden ist. Dies ist nicht geschehen, sodass die Einlegung des Rechtsbehelfs nach §§ 70 Abs. 2, 58 Abs. 2 VwGO innerhalb eines Jahres zulässig ist. Diese Frist wurde eingehalten.

      Beteiligte, Beteiligtenfähigkeit und Handlungsfähigkeit

      Nach § 79 Hs. 2 VwVfG sind die Vorschriften des VwVfG anzu- wenden, soweit nicht die speziellen Vorschriften der VwGO über Vorverfahren vorrangig gelten. Da in §§ 68 ff. VwGO hierzu nichts geregelt wird, sind die §§ 11 ff. VwVfG entsprechend anzuwenden.

      Beteiligte

      Nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG ist der Antragsteller Beteilig- ter und damit auch Beteiligter im Widerspruchsverfahren.

      Antragsteller ist derjenige, der in eigener Sache erreichen möchte, dass die Behörde einen VA erlässt, und zwar zunächst unabhän- gig davon, ob das Ziel berechtigt oder unberechtigt verfolgt wird (Ramsauer in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 13 Rn. 17).

      Mit ihrem Schreiben vom 11.2.2021 bringen die vier unterzeich- nenden Personen zum Ausdruck, dass sie von der Stadt als Behörde (§ 1 Abs. 4 VwVfG) ein Einschreiten erwarten, und zwar in jeweils eigener Angelegenheit, weil der von der Gaststätte ausgehende Lärm sie persönlich betrifft. Herr und Frau Frei sowie Herr und Frau Klein sind also Beteiligte des durch ihren Antrag eingeleiteten (§ 22 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG) Verwaltungsverfahrens (§ 9 VwVfG).

      Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Antragsbefugnis stimmt mit der Widerspruchsbefugnis überein und wird nachfol- gend geprüft.

      Der Verfahrensstatus der Beteiligten gilt nach § 79 Hs. 2 VwVfG entsprechend für das Widerspruchsverfahren für alle vier Personen, also auch für die Einlegung des Widerspruchs als Verfahrenshandlung.

      Alle Widerspruchsführer sind folglich im Widerspruchsverfahren Beteiligte.

      Beteiligten- und Handlungsfähigkeit

      Die Widerspruchsführer sind natürliche Personen, also nach § 11 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG beteiligtenfähig und als nach dem BGB Ge- schäftsfähige auch nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG handlungsfähig.

      Ordnungsgemäße Vertretung

      Aufgrund der von allen vier Personen erteilten Vollmachten be- stehen nach § 14 Abs. 1 VwVfG keine Zweifel an der zulässigen Einlegung der Widersprüche durch Rechtsanwalt Dr. Fuchs als Ver- fahrensbevollmächtigten. Die Vollmachten wurden gem. § 14 Abs. 1 Satz 3 VwVfG bei der Akteneinsicht nachgewiesen.

    4. Widerspruchsbefugnis

    Die Widerspruchsbefugnis ist in analoger Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO zu prüfen.

    Bei einem Verpflichtungswiderspruch muss der Widerspruchsführer geltend machen, dass möglicherweise ein Anspruch auf den begehr- ten VA besteht oder auf eine ermessensfehlerfrei Entscheidung über seinen Antrag.

    In dem zu prüfenden Widerspruchsverfahren möchten die Wider- spruchsführer nicht den Erlass eines sie begünstigenden VA, sondern begehren den Erlass eines belastenden VA gegen den Gastwirt mit für sie begünstigender Drittwirkung. Eine mögliche Verletzung subjektiv öffentlicher Rechte kann in einer solchen Fallkonstella- tion nur dann geltend gemacht werden, wenn der Betroffene sich auf eine Rechtsnorm berufen kann, die nicht nur dem Allgemein- interesse dient, sondern zumindest auch seine individuellen Rech- te zu schützen bestimmt ist. Die Rechtsnorm muss also auch den Zweck verfolgen, individuell Betroffene zu begünstigen und es ihnen zu ermöglichen, sich zur Durchsetzbarkeit auf die Begünstigung berufen zu dürfen (Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl., 2018, § 40 Rn. 133) (Schutznormtheorie).

    Zweck des BImSchG ist nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BImSchG u.a., Menschen vor umweltschädlichen Umwelteinwirkungen zu schüt- zen. Dabei handelt es sich nach § 3 Abs. 1 BImSchG um Immissio- nen, die nach Art und Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen.

    Diese sich aus § 3 Abs. 1 BImSchG ergebende Zweckbestimmung, ausdrücklich auch dem Schutz der Nachbarschaft zu dienen, ver- mittelt den davon Betroffenen ein subjektiv öffentliches Recht auf Schutz vor Immissionen, das gegenüber den zuständigen Behörden geltend gemacht und durchgesetzt werden kann. Der Gesetzgeber schützt mit diesen Vorschriften die freie Entfaltung der Persönlich- keit der Bürger (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Schutzbereich dieser Grundrechte wird durch das BImSchG als Teil der verfas- sungsmäßigen Ordnung bestimmt.

    Neben diesem objektiven Element der Schutznormwirkung muss darüber hinaus eine subjektive Betroffenheit der Widerspruchsfüh- rer gegeben sein, weil gerade sie als Adressaten durch die tatsächli- chen Verhältnisse beeinträchtigt werden. Das ist hier der Fall, weil die Ehepaare im unmittelbaren Einwirkungsbereich der Immissi- onen wohnen.

    Hierauf berufen sich die Widerspruchsführer und haben dazu sub- stanziiert entsprechende Tatsachen vorgetragen, sodass die Mög- lichkeit einer subjektiv öffentlichen Rechtsverletzung besteht. Die Widerspruchsbefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO liegt also für alle vier Personen vor (Möglichkeitstheorie).

    Zwischenergebnis

    Alle Sachentscheidungsvoraussetzungen werden erfüllt. Die einge- legten Widersprüche sind zulässig.

    Begründetheit

    Die Widersprüche sind nach § 113 Abs. 5 VwGO analog be- gründet, wenn die Widerspruchsführer in ihren Rechten verletzt werden, weil ein Anspruch auf den begehrten VA besteht oder ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung nach Prüfung der Zweckmäßigkeit (§ 68 Abs. 1 VwGO).

    Anspruchsgrundlage

    Das NGastG enthält in § 5 Abs. 1 Satz 1 eine Ermächtigungs- grundlage zum Schutz der Gäste. Behördliche Befugnisse aufgrund von Rechtsvorschriften u.a. zum Schutz der Nachbarschaft oder der Umwelt bleiben aber nach § 5 Abs. 1 Satz 2 NGastG unberührt.

    Anspruchsgrundlagen für die Widerspruchsführer könnten demnach

    § 24 Satz 1 oder § 25 Abs. 2 BImSchG sein, und zwar als Anspruch der beteiligten Dritten auf ein Einschreiten gegen den Gastwirt auf der Rechtsgrundlage dieser für ihn nach dem Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) erforderlichen Ermächtigungsnormen.

    Formelle Anspruchsvoraussetzungen

    Der Antrag wurde bei der zuständigen Behörde gestellt, und da das BImSchG keine Formvorschriften enthält, gilt die Nichtförmlich- keit nach § 10 Satz 1 VwVfG, sodass die von den Antragstellern gewählte Schriftform formell unbedenklich ist.

    Die vier Nachbarn sind als Antragstellerinnen und Antragsteller Beteiligte nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG.

    Der Gastwirt könnte als Antragsgegner Beteiligter des Verwaltungsver- fahrens sein. Das ist dann der Fall, wenn sich der Antrag auf eine Maß- nahme richtet, durch die die Rechtsposition eines Dritten beeinträch- tigt werden soll. Antragsgegner ist dann derjenige, in dessen Rechte der beantragte VA eingreifen soll. Das gilt nur in Verfahren, die den Erlass eines VA mit Drittwirkung betreffen (Ramsauer, a.a.O., § 13 Rn. 19).

    Wenn gegenüber dem Gastwirt eine immissionsrechtliche Anord- nung erlassen wird, handelt es sich um einen für ihn belastenden VA, allerdings mit begünstigender Drittwirkung für die Nachbarn. Demnach ist Herr Wuchtig als Antragsgegner Beteiligter.

    Im Widerspruchsverfahren ist der Gastwirt ebenfalls zu beteiligen. Nach § 71 VwGO ist er vor Erlass eines Abhilfe- oder Wider- spruchsbescheids anzuhören, wenn der Bescheid erstmals mit einer Beschwer verbunden ist. Da eine solche Beschwer beabsichtigt wird, muss W. Gelegenheit gegeben werden, sich zu dem Widerspruchs- begehren äußern zu können.

    Ob es sich bei dem Schreiben der Stadt vom 25.2.2021 um einen VA handelt, der in die Rechte der Nachbarn eingreift und deshalb ihre vorherige Anhörung erforderlich gewesen wäre, ist im Fall ei- nes Verpflichtungswiderspruchs unerheblich, weil es allein um die Beantwortung der Frage geht, ob ein Anspruch auf den begehrten und noch zu erlassenden VA besteht.

    Insoweit ist die Formulierung in § 113 Abs. 5 VwGO etwas ei- gentümlich, weil es nicht auf die Rechtswidrigkeit der Ablehnung ankommt, sondern darauf, ob der Kläger (hier analog: die jeweiligen Widerspruchsführer) einen Anspruch auf Erlass des begehrten VA hat (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. 2016, § 26 Rn. 1).

    Materielle Anspruchsvoraussetzungen

    Die Ansprüche der Widerspruchsführer bestehen, wenn eine An- ordnung rechtmäßig getroffen werden kann, weil die tatbestands-

    mäßigen Voraussetzungen der Ermächtigungsnorm des § 24 Satz 1 oder des § 25 Abs. 2 BImSchG erfüllt werden und das der Behörde eingeräumte Ermessen fehlerfrei und zweckmäßigerweise dahinge- hend ausgeübt wird, eine entsprechende Maßnahme zur Lärmredu- zierung zu erlassen.

    1. Ermächtigungsnorm des § 24 Satz 1 BImSchG

      1. Es geht um eine konkrete Lebenssituation der vom Lärm be- einträchtigten Nachbarn, also um einen Einzelfall. Das gilt selbst dann, wenn wie hier mehrere Nachbarn als Widerspruchsführer eine Maßnahme gegen den Gastwirt erstreben. Die konkret-indi- viduelle Situation betrifft den A., gegen den sich eine Anordnung richten soll.

      2. Die Durchführung des § 22 Abs. 1 BImSchG setzt zunächst vo- raus, dass es sich um eine nicht genehmigungsbedürftige Anlage handelt. Eine Musikanlage ist nach dem BImSchG nicht geneh- migungspflichtig.

        Im Rahmen der erteilten Baugenehmigung hätte die Bauaufsichts- behörde Anordnungen zur Einhaltung von Lärmimmissionsricht- werten aufnehmen können, weil das BImSchG als Baunebenrecht Anforderungen an bauliche Anlagen regelt (§ 2 Abs. 16 NBauO). Das ist und musste jedoch nicht geschehen, weil es zur Zeit der Erteilung der Baugenehmigung keine Veranlassung dazu gab. Dem- zufolge kommen bauaufsichtsrechtliche Maßnahmen nicht zum Tragen.

      3. Der Betreiber einer nicht genehmigungsbedürftigen Anlage, also W., hat diese nach § 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG so zu betreiben, dass von ihr keine schädlichen Umweltwirkungen ausgehen.

        Schädliche Umwelteinwirkungen sind nach § 3 Abs. 1 BImSchG Immissionen, die nach Art, Ausmaß und Dauer geeignet sind, Ge- fahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Zu den Im- missionen gehören nach § 3 Abs. 2 u.a. Geräusche.

        TA-Lärm

        Auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 Nr. 1 und 3 BImSchG hat die Bundesregierung Allgemeine Verwaltungsvorschriften zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen i.S.d. §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 BImSchG erlassen und damit bestimmt, dass bei Einhaltung der in der TA-Lärm festgelegten Immissionswerte, die nach einem in der Verwaltungsvorschrift geregelten Verfahren ermittelt werden, keine schädlichen Umwelteinwirkungen von der jeweiligen Anlage ausgehen.

        Eine Verwaltungsvorschrift ist eine interne Richtlinie und demnach keine Rechtsnorm, sodass dieser Vorschrift im Grundsatz keine un- mittelbare Außenwirkung zukommt. Es gibt aber normkonkreti- sierende Verwaltungsvorschiften, denen bei der Auslegung von un- bestimmten Rechtsbegriffen eine besondere Bedeutung zukommt.

        Der Gesetzgeber hat in § 48 BImSchG die Bundesregierung er- mächtigt, eine Verwaltungsvorschrift zu erlassen, die definiert, bei welchen Messwerten Umwelteinwirkungen nicht schädlich sind und

        ab wann von einer Gefahr, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen auszugehen ist. Diese Feststellungen sind durch spe- zielle Lärmmessungen zu treffen, die besondere technische Kennt- nisse voraussetzen. Die Auslegung des unbestimmten Gesetzesbe- griffs „schädliche Umwelteinwirkungen“ wird auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung der Verwaltung überlassen und ihr zugleich ein Beurteilungsspielraum zuerkannt (Wüstenbecker/ Sommer in: Alpmann Schmidt, Verwaltungsrecht AT 1, 2017, Rn. 141).

        Einer solchen Verwaltungsvorschrift, die Ähnlichkeiten mit einer von der Verwaltung aufgrund eines Gesetzes erlassenen Rechts- verordnung aufweist, wird nach der Rechtsprechung und Litera- tur als normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift unmittelbare Außenwirkung zuerkannt (Wüstenbecker/Sommer, a.a.O.). Der TA- Lärm kommt in einem gerichtlichen Verfahren insoweit eine zu beachtende Bindungswirkung zu (VG München, Beschl. v. 29.3.2016 – M 8 E1 16.286 aus BeckRS 2016, 48569).

        Die Stadt hat durch eine Lärmmessung festgestellt, dass der für ein Mischgebiet vorgeschriebene Richtwert für die Nacht von 45 dB(A) um 7 dB(A) überschritten wird. Demzufolge ist die Tatsache nach- gewiesen, dass von der Musikanlage des Gastwirts schädliche Um- weltauswirkungen auf die unmittelbare Nachbarschaft ausgehen.

      4. Eine Pflichtverletzung liegt jedoch nur dann vor, wenn diese nach dem Stand der Technik vermeidbar ist. Eine Musikanlage kann durch eine technische Vorrichtung, nämlich einen Limiter, als Innenpegelbegrenzung auf der Grundlage eines Sachverständigen- gutachtens so eingerichtet und betrieben werden, dass von dieser nur Lärmimmissionen ausgehen, die beim Nachbarn die Lärmrichtwer- te einhalten.

        Zwischenergebnis

        Demnach verletzt der Gastwirt seine ihm durch § 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG auferlegten Pflichten, und die Stadt kann eine lärmschüt- zende Anordnung treffen.

      5. Rechtsfolgeermessen

        Das nach § 24 Satz 1 BImSchG der Behörde eingeräumte Ermessen ist gem. § 40 VwVfG rechtsfehlerfrei auszuüben.

        1. Zweck

          Der Zweck einer immissionsrechtlichen Lärmschutzanordnung ist, die Allgemeinheit und die Nachbarschaft vor schädlichen Umwelt- einwirkungen zu bewahren (§§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 BImSchG). Eben dieser Zweck soll hier verfolgt werden. Sachfremde Erwägungen hat die Stadt bislang nicht in die Entscheidung einbezogen und sind auch für die zu treffende Widerspruchsentscheidung nicht er- kennbar.

          Zur Zweckbestimmung ist nicht nur die das Ermessen einräumen- de Ermächtigungsnorm heranzuziehen, sondern darüber hinaus auch die gesamte Rechtsordnung, insbesondere das Grundgesetz und die darin zu schützenden Grundrechte (Ramsauer, a.a.O., § 40 Rn. 33).

        2. Heranziehungspflicht aller Gesichtspunkte

          Für eine zweckgerechte und damit fehlerfreie Ermessensentschei- dung hat die Behörde alle sachgerechten Gesichtspunkte in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, um ein Ermessensdefizit (Heranziehungs- oder Abwägungsdefizit) zu vermeiden.

          Sachgerechter Gesichtspunkt ist aus Sicht der Widerspruchsführer das Recht auf körperliche Unversehrtheit, weil das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG durch den nächtlichen Lärm verletzt wird.

          Der Gesetzgeber hat mit dem Erlass des BImSchG dieses Grund- recht geschützt, indem von den Betreibern einer immissionsverur- sachenden Anlage verlangt wird, dass von dieser keine schädlichen Umwelteinwirkungen u.a. auf die Nachbarschaft ausgehen. Inso- weit dient das BImSchG der aktiven Schutzpflicht des Staates vor Eingriffen Dritter in das Grundrecht der körperlichen Unversehrt- heit. Diese Pflicht hat insbesondere für den Umweltschutz Bedeu- tung (Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl., Art. 2 Rn. 91 m.H.a. BVerfGE und BVerwGE). Demzufolge hat die Behörde diese vom Gesetzgeber vorgenommene Abwägung zwischen den Interessen des Anlagenbetreibers und der Nachbarn auch bei zu treffenden Ermessensentscheidungen entsprechend hoch zu gewichten und angemessen zu würdigen.

          Dem gegenüber steht das Interesse des Gastwirtes, sein Recht auf Gewerbefreiheit wahrzunehmen. Zum Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zählt auch die Ausübung des Gewerbes, die allerdings durch Gesetz geregelt werden und Schranken beinhal- ten kann (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG). Das BImSchG regelt solche Beschränkungen, wenn dem Gewerbetreibenden als Inhaber einer immissionsverursachenden Anlage innerhalb seiner Betriebsstätte besondere nachbarschützende Pflichten auferlegt werden. Das dem Gastwirt zukommende Grundrecht auf freie Berufsausübung ist demzufolge von vornherein drittschützend eingeschränkt.

          Das öffentliche Interesse an der Einhaltung der gesetzlichen Pflicht aus § 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG und zugleich das Interesse der Nachbarn, dass die Stadt durch eine entsprechende Anordnung für die Umsetzung des Zwecks des BImSchG Sorge trägt, überwiegt das Interesse des Gastwirts an einer uneingeschränkten Gewerbe- ausübung hinsichtlich des von seiner Gaststätte ausgehenden Lärms.

          Der Gastwirt hat seine Zusagen nicht eingehalten, den Lärm zu reduzieren, sodass ein behördliches Handeln geboten ist. Der Schutz der Nachbarn vor gesundheitlichen Schäden durch nächtlichen Lärm lässt ein Dulden nicht zu.

          Das Entschließungsermessen reduziert sich nach alledem auf null, weil sich zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung ein Nicht- einschreiten als rechtswidrig gegenüber den Widerspruchsführern erweisen würde.

        3. Gesetzliche Grenzen

          Die Behörde hat bei ihrer Entscheidung im Rahmen des Auswahl- ermessens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der seine positivgesetzliche Ausprägung in § 4 Abs. 1 und Abs. 2 NPOG gefunden hat.

          Die Anordnung muss geeignet sein, also den Erfolg der Maßnahme herbeiführen oder zumindest fördern. Nach den Ergebnissen eines Schallgutachtens und dem Einbau eines Limiters wird sichergestellt, dass auf dem nächstgelegenen Nachbargrundstück die Immissions- richtwerte stets eingehalten werden. Das Angebot des Gastwirts ist nicht geeignet, umweltschädlichen Lärm zu verhindern, denn ohne eine technische Vorrichtung als Sperre an der Musikanlage lässt sich nicht ausschließen, dass bei einer Discoveranstaltung doch der Laut- stärkeregler über die Markierung gezogen wird.

          Das von Herrn Anders gemachte Angebot ist dem Gastwirt zuzu- rechnen, weil W. Herrn Anders als Beistand zu den Verhandlungen hinzuziehen durfte (§ 14 Abs. 4 Satz 1 VwVfG) und der Gastwirt dem Angebot nicht widersprochen hat, sodass es als von ihm vorge- tragen gilt (§ 14 Abs. 4 Satz 2 VwVfG).

          Außerdem hatte der Gastwirt am 19.2.2021 zugesichert, dass er dafür Sorge tragen werde, keine nächtlichen Ruhestörungen zu verursachen. Ohne exakte gutachterliche Messungen und eine anschließende technische Einstellung der Anlage kann W. seine Zusagen offensichtlich nicht einhalten. Bereits am 20.2.2021, also am Tag nach der Zusage, kam es erneut zu einer empfindlichen Lärmbelästigung.

          Die Erforderlichkeit einer Maßnahme richtet sich danach, ob es zum Erreichen des Zwecks ein geeignetes Mittel gibt, das den Ein- zelnen weniger belastet als die beabsichtigte Anordnung (Ziel – Mittel – Relation).

          Möglich wäre, dem Gastwirt durch eine die gesetzlich zu erfüllenden Pflichten nach § 22 Nr. 1 BImSchG konkretisierende Anordnung aufzugeben, in Zukunft die Richtwerte einzuhalten, und unter An- drohung eines Zwangsmittels durchzusetzen. Eine solche Maßnah- me erweist sich zwar für W. als ein geringer eingreifendes Mittel, allerdings wird dieses nicht geeignet sein. Der Discjockey kann nicht einschätzen, ab welchem Lärmpegel die Immissionsrichtwerte am Nachbargrundstück überschritten werden.

          Ferner wäre die Stadt beweispflichtig, wenn sie wegen eines Versto- ßes gegen die Anordnung ein Zwangsgeld festsetzen würde. Wenn nämlich erneut des Nachts erhöhte Immissionswerte Anlass zu ei- nem Polizeieinsatz führen sollten, kann von der Stadt im Anschluss daran nicht der Beweis erbracht werden, ob überhaupt und in wel- chem Maß die Werte überschritten worden sind.

          Die Anwendung des § 26 Abs. 1 BImSchG scheidet hier aus, weil durch die Lärmmessungen der Stadt bereits feststeht, dass die von der Anlage ausgehenden, die Grenzwerte überschreitenden Immis- sionen zu schädlichen Umwelteinwirkungen führen.

          Das Übermaßverbot wird in diesem Fall nicht verletzt, weil die Einhaltung der Richtwerte nur sichergestellt werden kann, wenn der Lärm, der aus der Gaststätte auf die Nachbarschaft einwirkt, durch eine technische Vorrichtung reduziert wird. Dies ist also die geringstmögliche Maßnahme.

          Daher ist die Anordnung, einen mechanischen Lärmbegrenzer auf der Grundlage eines Gutachtens einzubauen, die erforderliche Maßnahme.

          Die Angemessenheit der Anordnungen wird gewahrt, wenn sich der für den Adressaten der Maßnahme ergebende Nachteil im Verhält- nis zum erstrebten Erfolg nach einer Gewichtung und Abwägung der geschützten Rechtsgüter als gerechtfertigt erweist (Ziel – Er- gebnis – Relation, Schwertfeger/Schwertfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 15. Aufl., Rn. 465).

          Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wurde in diesem Fall gewahrt, weil gegenüber dem W. die Anordnungen erlassen wer- den müssen, um die höherwertigen Grundrechte der Nachbarn auf körperliche Unversehrtheit zu schützen und demgegenüber das Grundrecht des Gastwirts durch den Gesetzesvorbehalt aus Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG eingeschränkt wird. Die durch das BImSchG normierte Grundrechtsschranke führt demzufolge zwangsläufig zum entstehenden Aufwand von 8.500 €, um die Einhaltung der Lärmschutzwerte sicherzustellen, nachdem es dem Gastwirt nicht gelungen ist, dies auf andere Weise zu erreichen. Der finanzielle Nachteil ist als weniger gewichtig einzustufen als die höherwertigen Persönlichkeitsrechte der Nachbarn. Zudem kann W. seine Disco auch nachts bei Einhaltung der Grenzwerte betreiben.

          Nach alledem reduziert sich auch das Auswahlermessen auf null, weil sich jede andere Maßnahme als ermessensfehlerhaft erweisen würde, sodass die Anordnungen zu erlassen sind.

          Für allgemeine Zweckmäßigkeitserwägungen eröffnen sich demzu- folge keine Entscheidungsspielräume mehr.

          Zwischenergebnis

          Daraus leitet sich der Anspruch der Widerspruchsführer gegenüber der Stadt ab, ihren Widersprüchen abzuhelfen, indem der Gastwirt eine Lärmschutzanordnung erhält.

    2. Ermächtigungsnorm des § 25 Abs. 2 BImSchG

      1. Nach einem Urteil des BVerwG (24.9.1992 – 7 C 6/92) kann § 25 Abs. 2 BImSchG als die speziellere Ermächtigungsnorm auch Anwen- dung finden, wenn die darin normierten Tatbestandsmerkmale erfüllt werden, und zwar auch dann, wenn eine minderschwere Maßnahme angeordnet werden soll als eine teilweise oder vollständige Betriebsun- tersagung. Wenn nämlich die schädlichen Umwelteinwirkungen „auf andere Weise“ als durch eine Untersagung verhindert werden können, wäre diese die weniger einschneidende Maßnahme, die dann ausreicht, die Gefährdung der Gesundheit der Menschen auszuschließen.

        Die Untersagung erfährt durch die Einschränkung „soweit die Nachbarschaft nicht auf andere Weise geschützt werden kann“ eine weitere Voraussetzung zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit, die der Gesetzgeber unter Beachtung des Verfassungsprinzips hier in der Ausprägung des Übermaßverbots normiert hat.

        Eine nur die gesetzlichen Pflichten konkretisierende Anordnung nach § 24 Satz 1 BImSchG ist als nicht erfolgversprechend unge- eignet, wie zuvor festgestellt. Die Nachbarn können in diesem Fall also nicht auf andere Weise geschützt werden.

      2. Tatbestandmerkmal des § 25 Abs. 2 BImSchG ist, dass durch die schädlichen Umwelteinwirkungen u.a. die Gesundheit der Men-

        schen gefährdet wird. Notwendig ist eine konkrete Gefahr, nicht jedoch eine unmittelbar bevorstehende (Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 25, Rn. 27 in beck-online). Eine Gesundheitsverletzung liegt vor, wenn sie durch gesundheitsbeeinträchtigende Schlafstörungen hervorgerufen werden, allerdings reichen bloße Beeinträchtigungen nicht aus (Jarass, a.a.O.).

        Dass die Nachbarn Gesundheitsschäden bereits erleiden mussten, wird durch die ärztlichen Gutachten und die Bestätigung des Amts- arztes nachgewiesen.

    3. Rechtsfolge

    § 25 Abs. 2 BImSchG als Sollvorschrift bindet das Entschließungs- ermessen der zuständigen Behörde, wenn keine atypischen Gründe vorliegen (OVG Koblenz, Beschl. v. 27.12.1988 – 7 B 67/88, NVwZ 1989, 275, beck-online).

    Ein gebundenes Einschreiten der Behörde wird als Sollregelung vom Gesetzgeber vorgegeben. Das bedeutet für die Rechtsanwen- dung grundsätzlich eine strikte Bindung für den Regelfall. Abwei- chungen sind nur für atypische Fallkonstellationen zulässig, die sich vom Normalfall dadurch unterscheiden, dass sie nach dem Sinn und Zweck der Norm offenbar nicht dem Regelungsgehalt entsprechen (Ramsauer, a.a.O., § 40 Rn. 64).

    Es muss sich um eng begrenzte Ausnahmesituationen handeln. Die dafürsprechenden Gesichtspunkte sind näher darzulegen und führen erst dann zu einer Ermessensentscheidung (Jarass, a.a.O, Rn. 30).

    Gründe für die Annahme einer atypische Situation sind in diesem Fall weder vom Gastwirt vorgetragen noch aus den Gesamtumstän- den erkennbar.

    Der Erlass der Anordnung erweist sich demzufolge nach § 25 Abs. 2 BImSchG als im Ergebnis gebundene Entscheidung.

    Diese Ermächtigungsgrundlage ist gegenüber § 24 Satz 1 BImSchG die speziellere und damit vorrangig zugrunde zu legen. Überdies ist sie die für die Widerspruchsführer günstigere.

    Als Rechtsfolge sieht § 25 Abs. 2 BImSchG eine teilweise Betriebs- untersagung vor. Nach dem Wortlaut könnte das bedeuten, dem Gastwirt den Betrieb der Musikanlage teilweise, also ab 22.00 Uhr, völlig zu untersagen. Eine solche Anordnung als gesetzliche Grenze anzusehen würde aber nicht mit dem Übermaßverbot als Verfas- sungsgrundsatz in Einklang zu bringen sein. Auch eine systematische Auslegung durch die Beachtung des § 24 Satz 1 BImSchG, der we- niger eingreifende Maßnahmen zulässt, führt zu dem Ergebnis, dass ein nächtlicher, lärmreduzierter Betrieb der Musikanlage als milde- res Mittel erst recht von der Rechtsfolge erfasst wird (Jarass, a.a.O., Rn. 29 m.H.a. BVerwGE 91, 92/93, NJW 1993, 342) (Erst-recht-

    Schluss vom Größeren auf das Kleinere [Beaucamp/Treder, Metho- den und Technik der Rechtsanwendung, 2. Aufl. 2011, Rn. 306]).

    Gesamtergebnis

    Die Widersprüche der Nachbarn sind begründet, weil die Ableh- nung, eine Anordnung zu erlassen, sich als rechtswidrig erweist und

    die Rechte der Antragsteller verletzt, weil ein Rechtsanspruch auf den geltend gemachten Erlass der vorgesehenen immissionsschutz- rechtlichen Anordnungen gegenüber dem Gastwirt besteht.

    Entscheidungsvorschläge

    1. Vor Erlass eines Abhilfebescheids und damit einer Anordnung ist der Gastwirt anzuhören, wie dies § 71 VwGO als Sollvorschrift vorschreibt. Die neue Beurteilung der Rechtslage ist dem W. bislang nicht bekannt. Dazu soll er sich äußern können.

      Äußert sich der Gastwirt nicht oder sind seine Einwände nicht entscheidungsrelevant, wie sich aus dem Bearbeitungshinweis Nr. 7 ergibt, endet das Widerspruchsverfahren, wie nachfolgend beschrie- ben.

    2. Rechtsanwalt Dr. Fuchs erhält Abhilfebescheide (§ 72 VwGO), durch die zunächst aus Gründen der Rechtsklarheit die an die Wi- derspruchsführer gerichteten Ablehnungsbescheide aufgehoben werden sollten (Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 14. Aufl. 2019, Rn. 1264).

    3. Die Abhilfe umfasst aber zugleich als die begehrten und damit wesentlicheren Regelungen die Anordnungen an den W., die den Abhilfebescheiden als Bestandteile beizufügen sind. Die Abhilfe- bescheide sind mit einer ausdrücklich an die Widerspruchsführer gerichteten Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen.

    4. Der Bescheid kann zugleich mit der Anordnung der soforti- gen Vollziehung im überwiegenden öffentlichen und im überwie- genden Interesse der Nachbarn als Beteiligte (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) versehen werden. Dies kann auch noch im Rahmen des Widerspruchsverfahren geschehen. Darum hatte der Bevollmäch- tigte ausdrücklich gebeten. Ein solcher Antrag nach § 80a Abs. 2 VwGO darf vom Drittbegünstigten auch schon vor Einlegung des Rechtsbehelfs gestellt werden (W.-R. Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl., § 80a Rn. 16, 8). Ansonsten muss die Stadt damit rechnen, dass der Rechtsanwalt einen Antrag beim Verwaltungs- gericht nach § 80a Abs. 3 VwGO auf Anordnung der sofortigen Vollziehung stellt.

    5. Die Kostenentscheidung fällt zugunsten der Widerspruchsführer aus, da die Widersprüche erfolgreich waren (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Zu den Aufwendungen der zweckentsprechenden Rechts- verfolgung gehören die an den Rechtsanwalt zu zahlenden Gebüh- ren nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz.

    6. Die Zuziehung eines Rechtsanwalts war notwendig (§ 80 Abs. 2 VwVfG). Die Voraussetzungen für das Hinzuziehen eines Bevoll- mächtigten sind in der Regel anzunehmen, damit ein Widerspruchs- führer seine Rechte ausreichend wahrnehmen kann (Ramsauer, a.a.O., § 80 Rn. 39). Hierüber bedarf es einer Entscheidung im Abhilfebescheid (§ 80 Abs. 3 Satz 2 VwVfG).

    7. Die Kosten des Verwaltungsverfahrens zum Erlass der Anord- nung nach § 25 Abs. 2 BImSchG hat der Gastwirt zu tragen. Ermächtigungsgrundlage ist § 1 NVwKostG, da W. Anlass für die Amtshandlung gegeben hat. Als Verursacher ist W. anzusehen, des- sen Verhalten erst zu den beiden Verfahren geführt hat.

    Die Kosten für das Widerspruchsverfahren können wegen fehlender Ermächtigungsgrundlage nicht dem Gastwirt auferlegt werden. Hat ein Rechtsbehelf Erfolg, sind nur die Kosten für die vorzunehmen- de Amtshandlung, also die Anordnungen, zu erheben (§ 12 Abs. 1 Satz 2 NVwKostG).

  2. Entwürfe der verfahrensbeendenden Bescheide Vorbemerkungen zur Bescheidtechnik

  1. Literaturhinweis: Koop/Weidemann (Hrsg.), Bescheidtechnik, Mustertexte für Studium und Praxis, 2. Aufl. 2019.

  2. Den Widerspruch haben vier Personen eingelegt, die nun- mehr Adressaten der Abhilfebescheide sind. Es handelt sich um ein Bündel von gleichlautenden Einzel-VA, für die der Begriff des Sammel-VA verwendet wird (U. Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O., § 35 Rn. 277).

    An Ehepaare kann grundsätzlich ein zusammengefasster Bescheid ge- richtet und bekannt gegeben werden (U. Stelkens, a.a.O., § 41 Rn. 75).

    Eine Ausfertigung des Bescheids kann an den Rechtsanwalt gerich- tet werden, wenn sie einen gemeinsamen Bevollmächtigten haben. Dies wird aus § 7 Abs. 1 Satz 3 VwZG geschlossen (U. Stelkens, a.a.O., § 41 Rn. 77).

    Da zwei Ehepaare Widerspruch eingelegt haben, sind an den Rechtsanwalt auch zwei Abhilfebescheide bekannt zu geben.

  3. Eine Zustellung des Abhilfebescheids ist in § 72 VwGO nicht vorgeschrieben. Gleichwohl empfiehlt sich eine nach §§ 79 Hs. 2, 37 Abs. 6 VwVfG i.V.m. dem NVwZG mögliche förmliche Bekannt- gabe. Die Bescheide sollten aus Gründen der Beweisführungspflicht der Behörde hinsichtlich der Fristberechnung für die Bestandskraft zugestellt werden.

    An einen Rechtsanwalt sollte per Empfangsbekenntnis nach §§ 1 NVwZG, 5 Abs. 4 VwZG zugestellt werden. Diese vereinfachte Form der Zustellung geschieht auf „andere Weise“, nämlich nicht durch Aushändigung des Dokuments durch die Behörde (§ 5 Abs. 1 Satz 1 VwZG), sondern durch Beifügung eines Empfangsbekennt- nisses zum Bescheid mit einfachem Brief. Der Rechtsanwalt als zu- verlässiges Organ der Rechtspflege unterzeichnet diese, versieht sie mit dem Datum der Zustellung und sendet das Empfangsbekennt- nis an die Behörde zurück (§ 5 Abs. 7 Satz 1 VwZG).

    Der Bescheid an W. sollte per Zustellungsurkunde nach § 3 VwZG zugestellt werden.

  4. Der Ablehnungsbescheid wird in der Regel im Tenor zunächst aufgehoben, dies allerdings nur aus Gründen der Rechtsklarheit mit deklaratorischer Wirkung. Geschieht dies nicht, wird der Ableh- nungsbescheid aufgrund des Erlasses des beantragten VA obsolet (überflüssig), also „auf andere Weise“, nämlich faktisch, unwirksam (§ 43 Abs. 2 Alt. 5 VwVfG).

  5. Dem Widerspruch wird nur vollständig abgeholfen, wenn der Gastwirt die von den Nachbarn beantragte Anordnung erhält. Da

    es sich um einen belastenden VA mit begünstigender Drittwirkung handelt und die Nachbarn als Antragsteller Beteiligte nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG sind, hat die Bekanntgabe auch gegen- über denjenigen zu erfolgen, die von dem VA betroffen sind (§§ 79 Hs. 2, 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG), also gegenüber den Widerspruchs- führern. Daran ändert sich auch nichts, weil die Anordnungen erst im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erlassen werden, denn auch dieses ist ein Verwaltungsverfahren i.S.d. § 9 VwVfG.

  6. Ein Abhilfebescheid muss im Gegensatz zu einem Wider- spruchsbescheid nicht begründet werden. Eine Begründung ist im Grundsatz auch entbehrlich, wenn einem Anfechtungswiderspruch in vollem Umfang abgeholfen wird.

    Hier geht es jedoch um einen Verpflichtungswiderspruch, dem im Rahmen der Abhilfe der begehrte Erlass eines VA folgt.

    Besonders im Falle eines Drittwiderspruchs wie hier ist der im Rahmen der Abhilfe zu erlassende VA an W. nach §§ 79 Hs. 2, 39 Abs. 1 VwVfG zu begründen. Dies liegt auch im Interesse der Widerspruchsführer, um prüfen zu können, ob sie mit der Abhil- feentscheidung einverstanden sein sollten.

  7. Wenn in einem Bescheid mehrere Anordnungen enthalten sind, dann muss für jede einzelne Regelung ein Zwangsgeld auch in der jeweiligen Höhe angedroht werden (OVG Lüneburg, Urt. v. 23.2.2017 – 11 LB 94/16, DVP 1/20, S. 36 mit ergänzenden Hin- weisen von J. Vahle).

  8. Den Bescheiden, die das Widerspruchsverfahren abschließen, ist jeweils eine Rechtsbehelfsbelehrung beizufügen, die sich in diesem Fall für die Widerspruchsführer auch besonders auf die an den Gast- wirt erlassenen Anordnungen beziehen muss, um die Klagefrist für die Nachbarn in Lauf zu setzen, falls die Widerspruchsführer mit der Anordnung an W. nicht einverstanden sein sollten.

    Die Verpflichtung zur Rechtsbehelfsbelehrung ergibt sich zwar nicht aus § 72 VwGO, der hier im Vorverfahren zur Anwendung kommt und keine diesbezügliche Regelung enthält, sondern aus § 37 Abs. 6 VwVfG für den Erstbescheid an W.

  9. Rechtsbehelf gegen den Abhilfebescheid ist die Klage, denn ein Widerspruch ist nach § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO nicht statt- haft.

    Bei dem Bescheid an den Gastwirt handelt es sich um einen erst- mals an ihn gerichteten Bescheid. Dieser wird jedoch mit dem Ab- schluss des Widerspruchsverfahrens, an dem W. beteiligt wurde, als eine dem Widerspruch der Nachbarn stattgebende Abhilfeent- scheidung erlassen. Das Verwaltungsverfahren, das unter Beteili- gung des W. stattgefand und das zum Ablehnungsbescheid führte, und das Widerspruchsverfahren, das die Anordnung zum Streit-

    gegenstand hatte und zu der W. gehört worden war, bilden eine Einheit (Schiller in: Bauer/Heckmann/Ruge/Schallbruch/Schulz [Hrsg.], 2. Aufl. 2012, VwVfG und E-Government, § 79 Rn. 19).

    Deshalb handelt es sich verfahrensrechtlich um einen das Vorver- fahren durch Abhilfe abschließenden Bescheid an W., der mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen ist, die auf den Rechtsbehelf der Klage hinweist.

  10. Im Falle einer wie hier festgestellten Identität zwischen Aus- gangs- (also Abhilfe-) und Widerspruchsbehörde ist der das Ver- fahren abschließende Bescheid entweder ein Abhilfebescheid oder ein Widerspruchsbescheid, je nach dem Verfahrensergebnis. Ergibt die Prüfung, dass dem Widerspruch stattzugeben ist, wird ein Ab- hilfebescheid nach § 72 VwGO erlassen. Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, ergeht ein Widerspruchsbescheid.

    Die vertretene Auffassung, bei Behördenidentität sei auch bei Ab- hilfe ein (stattgebender) Widerspruchsbescheid zu erlassen (Skouris in: DÖV 1982, 133 ff.), ist mit Inkrafttreten des 6. VwGOÄndG zum 1.1.1997 nicht mehr durchgreifend. Die Neufassungen der vor- genannten Vorschriften (§§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 71, 78 Abs. 2 und 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) erwähnen nämlich neben dem Wi- derspruchsbescheid seitdem ausdrücklich auch den Abhilfebescheid, wenn dieser erstmalig eine Beschwer enthält. Das betrifft vor allem VA mit Drittwirkung.

    Diese hier vertretene Meinung entspricht der Rechtsprechung (OVG NRW, Urt. v. 17.12.1992 – 16 A 1952/91, BeckRS 1992, 09875).

  11. Dabei kommt es im Ergebnis nicht darauf an, wie diese Beschei- de genannt werden, sondern allein maßgeblich ist, welchen rechtli- chen Gehalt sie in Bezug auf das Widerspruchsverfahren haben. Die nachfolgend an den Rechtsanwalt und an W. gerichteten Bescheide werden deshalb auch nicht explizit als Abhilfebescheide bezeichnet. Eine solche Bezeichnung ist den rechtsunkundigen Laien wie W. zudem nicht verständlich und deshalb tunlichst zu vermeiden.

  12. Bei der Begründung des besonderen Interesses an der soforti- gen Vollziehung nach § 80 Abs. 3 VwGO ist entscheidend, auf den zeitlichen Aspekt abzustellen. Das sofortige Vollzugsinteresse der Behörde und hier auch der Nachbarn als Beteiligte muss gewichtiger sein als das Interesse des VA-Adressaten W. am Suspensiveffekt.

 


 

Stadt Osnabrück

Die Oberbürgermeisterin

Rechtsanwalt Dr. Fuchs Lange Str. 33

49082 Osnabrück

per Empfangsbekenntnis

[Infoblock]

Osnabrück, den 24.4.2021

Widerspruch der Eheleute Frei wegen Lärm der Gaststätte Halligalli, Blumental 4, 49082 Osnabrück

Sehr geehrter Dr. Fuchs,

aufgrund der von Ihnen im Namen Ihrer Mandanten, den Eheleuten Frei, eingelegten Widersprüche vom 14. April 2021

  1. werden die Ablehnungsbescheide vom 25. Februar 2021 aufgehoben, und

  2. gegenüber dem Gastwirt W. Wuchtig wurden immissionsrechtliche Anordnungen vom heutigen Tage erlassen, die als Anlage diesem Bescheid beigefügt und Bestandteil dieser Widerspruchsentscheidung sind.

  3. Die Kosten für dieses Widerspruchsverfahren trägt die Stadt Osnabrück.

  4. Die Zuziehung eines Rechtsanwalts war notwendig (§ 80 Abs. 3 Satz 2 VwVfG).

Wie der Begründung des an Herrn Wuchtig gerichteten Bescheids entnommen werden kann, soll durch die angeordneten Maß- nahmen zukünftig sichergestellt werden, dass auf dem Nachbargrundstück Ihrer Mandanten der in der TA-Lärm vorgeschriebene Immissionsrichtwert von nachts 45 dB(A) nicht überschritten wird.

Die sofortige Vollziehung wurde im überwiegenden öffentlichen Interesse und im Interesse Ihrer Mandanten angeordnet.

 

2.1 Bescheidentwurf an die Widerspruchsführer

Die Ihren Mandanten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen werden auf Antrag nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG erstattet.

Rechtsbehelfsbelehrung

Gegen diesen Bescheid einschließlich des an Herrn W. Wuchtig gerichteten Bescheids vom heutigen Tage mit den Regelungen in den Nr. 1–3 kann innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieses Bescheids Klage beim Verwaltungsgericht Osnabrück, Hakenstr. 15, 49074 Osnabrück, erhoben werden.

Mit freundlichen Grüßen im Auftrag

Kunze

Der gleiche Bescheid ist an den Rechtsanwalt im Widerspruchsverfahren der Eheleute Klein zu richten.

Stadt Osnabrück

Die Oberbürgermeisterin

per Postzustellungsurkunde

Werner Wuchtig Blumental 4

49082 Osnabrück

[Infoblock]

Osnabrück, den 24.4.2021

Lärmschutzanordnung für Ihre Gaststätte Halligalli, Blumental 4, 49082 Osnabrück, nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens

Sehr geehrter Herr Wuchtig,

  1. zur Einhaltung der Lärmimmissionsrichtwerte verpflichte ich Sie, innerhalb von 20 Tagen nach Bekanntgabe dieses Be- scheids einen staatlich anerkannten Sachverständigen für schalltechnische Messungen mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen, aus dem sich ergibt, wie ein Limiter einzustellen ist, damit an dem nächstgelegenen Fenster des Nachbar- grundstücks Blumental 2 nachts ab 22.00 bis 6.00 Uhr der Immissionsrichtwert von 45 dB(A) nicht überschritten wird.

  2. Auf der Grundlage dieses Gutachtens haben Sie innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt des Gutachtens einen Limiter an der Musikanlage Ihrer Gaststätte anzubringen oder anbringen zu lassen, der sodann von dem Sachverständigen so einzustellen und fest zu installieren und zu verplomben ist, dass der Richtwert von 45 dB(A) nicht überschritten wird. Hierüber haben Sie sodann der Stadt einen Nachweis des Sachverständigen vorzulegen.

  3. Sollten Sie der Anordnung in Nr. 1 nicht fristgerecht nachkommen, werde ich ein Zwangsgeld von 3.000 € festsetzen und bei einem Verstoß gegen die Anordnung in Nr. 2 ein Zwangsgeld von 2.000 €.

  4. Die sofortige Vollziehung dieses Bescheids wird angeordnet.

  5. Die Kosten für dieses Verwaltungsverfahren haben Sie zu tragen.

  • Anordnung an den Gastwirt

Begründungen

Aufgrund einer Beschwerde Ihrer Nachbarn, der in diesem Zusammenhang gestellten Anträge sowie der Widersprüche gegen meine Ihnen bekannten Ablehnungsbescheide wurde im Rahmen des Widerspruchsverfahren, an dem Sie beteiligt wurden, festgestellt, dass von der Musikanlage Ihrer Gaststätte Lärmimmissionen ausgehen, die nachts auf dem Grundstück Blumental 2 den Richtwert von 45 dB(A) überschreiten.

Bei der Anhörung am 19.2.2021 hatte ich Sie bereits darauf hingewiesen, dass die Absicht besteht, Ihnen den Einbau eines Limiters auf der Grundlage eines von Ihnen einzuholenden Gutachtens aufzuerlegen. Der bei der Anhörung anwesende Herr Anders sagte zwar zu, dafür Sorge tragen zu wollen, dass der Richtwert eingehalten werden wird, jedoch mussten die Nachbarn am 20.2.2021 erneut die Polizei zu einen nächtlichen Einsatz rufen. Dieses Versprechen ist Ihnen zuzurechnen, weil Sie Herrn Anders als Beistand an der Anhörung beteiligten.

Eine von mir im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durchgeführte nähere Prüfung der Sach- und Rechtslage auch unter Wür- digung Ihrer Stellungnahme im Rahmen der Anhörung nach § 71 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. März, BGBl. I S. 686) ergab nunmehr eine andere rechtliche Würdigung, die wie folgt begründet wird.

Rechtsgrundlagen für die Anordnungen nach Nr. 1 und 2 sind § 25 Abs. 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) in der Fassung vom 17.5.2013 (BGBl. I S. 1274) sowie die Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum BImSchG – Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) vom 26.8.1998 (GMBl. Nr. 26/1998, S. 503).

Sachverständigengutachten (Nr. 1)

Die Anordnung, ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben zu müssen, erweist sich nach den Geschehnissen der Vergan- genheit als erforderlich, weil es offensichtlich nicht gelingt, ohne Messungen durch einen Sachverständigen sicherzustellen, dass der Richtwert auf dem Nachbargrundstück eingehalten wird. Eine lärmreduzierte Betätigung der Musikanlage ist daher nur durch eine sachverständige Vorgabe zu erreichen.

Einbau eines Limiters (Nr. 2)

Der auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens einzubauende und zu justierende Limiter wird zukünftig ausschließen, dass von der Musikanlage Schallimmissionen ausgehen, die in der Nachbarschaft die Richtwerte überschreiten. Eine Verplombung wird sicherstellen, dass die Mechanik nicht missbräuchlich genutzt wird.

Eine Gefährdung der Gesundheit der Bewohner des Nachbargrundstücks Blumental 2 wurde durch ärztliche Gutachten, die vom amtsärztlichen Dienst bestätigt wurden, nachgewiesen.

Würden die schädlichen Umwelteinwirkungen ohne diese Anordnungen fortgesetzt, werden weitere Gesundheitsschädigungen die Folge sein.

Die Anordnungen sind geeignet und erforderlich, weil auf andere Weise die Richtwerte nicht eingehalten werden können.

Die Angemessenheit des geringstmöglichen Eingriffs in Ihre Gewerbefreiheit durch den Betrieb der Musikanlage ergibt sich be- reits aus den gesetzlichen Vorgaben des BImSchG und der TA-Lärm zum Schutz des Grundrechts der Nachbarn auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

Da eine atypische Situation, die nach dem Zweck der hier zur Anwendung kommenden Rechtsnorm des BImSchG eine Ausnah- me rechtfertigen würde, weder von Ihnen vorgebracht worden noch nach den Gesamtumständen erkennbar ist, erweisen sich die Anordnungen als zwingend notwendig.

Zwangsgeldandrohungen (Nr. 3)

Die Androhungen der Zwangsgelder stützen sich auf §§ 64 ff. des Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (NPOG) in der Fassung vom 19.1.2005 (Nds. GVBl S. 9), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.12.2015 (Nds.GVBl. S. 428).

Die jeweilige Höhe der angedrohten Zwangsgelder ist angemessen, um Sie anzuhalten, die Anordnungen zu befolgen. Auch in Anbetracht der Auswirkungen für die Nachbarn, falls diese Anordnungen von Ihnen nicht fristgerecht befolgt werden sollten, ist die jeweilige Höhe geboten.

Anordnung der sofortigen Vollziehung (Nr. 4)

Die sofortige Vollziehung anzuordnen ist im überwiegenden Interesse der Nachbarn und auch im hohen öffentlichen Interesse an der unverzüglichen Einhaltung der gesetzlichen Immissionsschutznormen gerechtfertigt, weil mit der Umsetzung der lärmschüt- zenden Maßnahmen nicht gewartet werden kann, bis dieser Bescheid bestandskräftig geworden ist. Dies könnte bis zum Anschluss eines möglichen Klageverfahrens noch eine lange Zeit in Anspruch nehmen, während der die Nachbarn weiterhin Schaden an ihrer Gesundheit nehmen würden. Dies zu verhindern überwiegt Ihr Interesse, erst dann die Anordnungen befolgen zu müssen, wenn dieser Bescheid bestandskräftig geworden ist.

Zudem führt die Folgenabwägung zu diesen Anordnungen, denn einem finanziellen Aufwand für Sie stehen bis zu einer möglichen Gerichtsentscheidung erlittene und womöglich irreparable Gesundheitsschädigungen der Nachbarn gegenüber.

Rechtsgrundlage ist § 80 Abs. 2 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in der Fassung vom 19.3.1991 (BGBl. I S. 686). Kostenlastentscheidung (Nr. 5)

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 1 ff. des Niedersächsischen Verwaltungskostengesetz (NVwKostG) in der Fassung vom 25.4.2017 (Nds. GVBl. S. 173). Da Sie Anlass für den Erlass dieses Bescheids gegeben haben, sind Sie Kostenschuldner.

Ein Kostenfestsetzungsbescheid über die Höhe der Gebühren und Auslagen wird folgen.

Rechtsbehelfsbelehrung

Gegen die Anordnungen Nr. 1 bis 3 und 5 dieses Bescheids kann innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Klage beim Verwal- tungsgericht Osnabrück, Hakenstr. 15, 49074 Osnabrück, erhoben werden.

Hinweis

Gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung (Nr. 4) kann beim Verwaltungsgericht Osnabrück nach § 80 Abs. 5 VwGO ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gestellt werden.

Mit freundlichen Grüßen im Auftrag

Kunze


 

* Städt. Direktor a. D. Udo Kunze ist nebenamtlicher Fachlehrer beim Nds. Stu- dieninstitut für kommunale Verwaltung e.V., Lehrbeauftragter der Kommuna- len Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen sowie der Hochschule Osna- brück und Dozent des Kommunalen Bildungswerkes e.V. Berlin.

** Der Fall war Gegenstand der 5-U-Std. umfassenden AII-Klausur im Allge- meinen Verwaltungsrecht am Lehrgangsort Osnabrück. Das BImSchG und die TA-Lärm sowie die Schutznormtheorie wurden zuvor behandelt.

*** Das Gutachten und die Entwürfe der das Widerspruchsverfahren abschließen- den Bescheide beziehen sich auf Sachverhalte in der DVP 5-2022, S. 212 ff.