Fall 23 – Keine Ausnahmegenehmigung für mobilen Zeitungshändler

Reiner Stein* Keine Ausnahmegenehmigung für mobilen Zeitungshändler** Fallbearbeitung aus dem Allgemeinen Verwaltungsrecht1

Den Sachverhalt zum Fall finden Sie in der Ausgabe 12/2022 der Zeitschrift

DVP-Fachzeitschrift für die öffentliche Verwaltung auf Seite 518 ff.

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* Reiner Stein war in seiner aktiven Berufstätigkeit Leiter des Ausbildungsinstituts an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes
Mecklenburg-Vorpommern und Dozent für Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht am Fachbereich Allgemeine Verwaltung an selbiger Fachhochschule.

** Vgl. hierzu auch den von Reiner Stein veröffentlichten Fall „Der mobile Zeitungshändler“ in DVP 2011, 419 ff, in dem es allerdings um eine straßen- und wegerechtliche
Verbotsverfügung wegen fehlender Sondernutzungserlaubnis ging.

1 Zu finden in DVP 12-2022 auf S. 518.

A. Zulässigkeit der Klage
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges
Mangels auf- oder abdrängender Spezialzuweisungen abstellen auf § 40 I 1 VwGO

  • Öffentlich-rechtliche Streitigkeit nach modifizierter Subjektstheorie: streitentscheidende Norm  § 46 I Nr.9 StVO berechtigt Straßenverkehrsbehörden zum Handeln
    (für den Hoheitsträger)
  • Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, da keine Beteiligung von Verfassungsorganen

II. Statthafte Klageart Verpflichtungsklage (§ 42 I Alt. 2 VwGO) in Form der „Versagungsgegenklage“ (+), da Begehren des Klägers gerichtet auf Erlass eines abgelehnten VA

III. Klagebefugnis (§ 42 II Alt. 2 VwGO) (+) nach „Möglichkeitstheorie“, (+),
§ 46 I Nr.9 StVO kann als Ermessensnorm zumindest ein subjektiv-öffentliches Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung begründen; ggf. bei Ermessensreduzierung
auf null auch Anspruch auf Erlass des VA, der durch die Ablehnung verletzt sein kann

IV. Vorverfahren (§ 68 I 1 VwGO)
1. Keine Entbehrlichkeit des Vorverfahrens
2. Ordnungsgemäße Durchführung des WS-Verfahrens
2.1 Form der WS-Einlegung (§ 70 I 1 VwGO) (+) Einlegung bei der WS-Behörde gem. § 70 I 2 VwGO zulässig
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2.2 Einhaltung der WS-Frist – Jahresfrist, da fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung

  • Bekanntgabezeitpunkt: 11.4.2022 (bei Übergabeeinschreiben gem. § 97 II 2 VwVfG M-V „3-Tages-Fiktion“)
  • Fristbeginn: 12.4.2022 (§§ 79, 31 I VwVfG M-V, 187 I BGB)
  • Fristende nach Jahresfrist: 11.4.2023 (§§ 79, 31 I VwVfG M-V, 188 II, 193 BGB)

Eingang des WS am 18.5.2022 damit fristgerecht
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2.3 Entscheidung durch die zuständige WS-Behörde (+)  Fall des § 73 I 2 Nr.1 VwGO

V. Ordnungsgemäße Klageerhebung (§ 81f. VwGO)
1. Form der Klageerhebung (§ 81VwGO) (+) / Inhalt der Klageschrift (§ 82VwGO) (+)
2. Klagefrist – 1 Monat nach Zustellung des WS-Bescheids, da fehlerfreie Rechtsbehelfsbelehrung

  • Bekanntgabezeitpunkt: 27.5.2022 Übergabe an Bruder W (gegen EB gem. §§ 73 III 1,2 VwGO, 5 I VwZG)
    aber wegen fehlerhafter Zustellung (Verstoß gegen § 5 I 4 VwZG) abstellen auf den 2.6.2022 (= Übergabe an Empfangsberechtigten O)
  • Fristbeginn: 3.6.2022 (§§ 57 II VwGO, 222 I ZPO, 187 I BGB)
  • Fristende: 4.7.2022, da 2.7.2022 Samstag war (§§ 57 II VwGO, 222 I ZPO, 188 II, 193 BGB) Eingang der Klage am 4.7.2022 damit fristgerecht

VI. Richtige Auswahl des Beklagten (§ 78 I Nr.2 VwGO i. V.m. § 14 II AGGSG M-V analog) Landrat des Landkreises Rostock als Ausgangsbehörde

VII. Beteiligungs- u. Prozessfähigkeit von O als Kläger und Landrat des Kreises Rostock (gem. §§ 61, 62 VwGO, 14 AGGSG M-V) (+)

Zwischenergebnis: Die Verpflichtungsklage ist zulässig

B. Begründetheit der Verpflichtungsklage

I. In Betracht kommende Anspruchsgrundlage -> § 46 I Nr.9 StVO

II. Formelle Voraussetzungen des Anspruchs
1. Antragstellung für die begehrte Ausnahmegenehmigung (+)
2. Zuständigkeit des Landrats des Kreises Rostock für die begehrte Ausnahmegenehmigung (+)

  • sachliche Zuständigkeit gem. §§ 46 I, 44 I StVO, 3 I StVZustLVO M-V als Straßenverkehrsbehörde
  • Örtliche Zuständigkeit nach § 47 II Nr.8 StVO

III. Materielle Voraussetzungen des Anspruchs
1. Tatbestandsvoraussetzungen der AGL (§ 46 I Nr.9 StVO)
1.1 Vorliegen von Verboten nach § 33 I Nr. 1 bzw. Nr. 2 StVO

  • nach § 33 I Nr.2 StVO ist das Anbieten von Waren aller Art (= Zeitungen) auf der Straße verboten
  • durch den Einsatz des Blinklichts werden andere Verkehrsteilnehmer in verkehrsgefährdender Weise abgelenkt

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1.2 Weitere (allgemeine) Voraussetzungen des § 46 I Nr. 9 StVO
O begehrt als „bestimmter Antragsteller“ eine „allgemeine Ausnahmegenehmigung“
2. Rechtsfolgenseite der AGL (§ 46 I Nr.9 StVO = Ermessensnorm)
2.1 Ermessensreduzierung auf null
2.1.1 Ermessensreduzierung wegen der besonderen Bedeutung des GR aus Art. 12 I GG (–)
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2.1.2 Ermessensreduzierung wegen Selbstbindung der Verwaltung (–)
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2.2 Fehlerfreie Ermessensentscheidung gem. §§ 40 VwVfG M-V, 114 VwGO (+)
Sicherheit u. Leichtigkeit des Verkehrs genießen Vorrang vor den beruflichen und wirtschaftlichen Interessen des O

  • Versagungsbescheid ist ermessensfehlerfrei
  • Anspruch des O auf ermessensfehlerfreie Entscheidung ist erloschen

Ergebnis: Die Verpflichtungsklage ist zulässig, aber unbegründet.