Fall 18 – Eine Standpauke geht viral

Eine Standpauke geht viral** – Thorsten Attendorn* – Online-Fallbearbeitung aus dem Land NRW

Den Sachverhalt zum Fall finden Sie in der Ausgabe 08/2021 der Zeitschrift

DVP – Fachzeitschrift für die öffentliche Verwaltung

auf Seite 329 f.

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* Prof. Dr. Thorsten Attendorn ist Professor an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Abteilung Gelsenkirchen, Außenstelle Dortmund. Die Klausur wurde in dem im ersten Studienjahr verorteten Modul „Allgemeines Verwaltungsrecht“ zur Prüfung gestellt.

** Die Aufgabenstellung finden Sie in der DVP 8-2021 S. 329 f.

A. Ermächtigungsgrundlage
§ 53 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 3 Nr. 2 SchulG NRW
B. Formelle Rechtmäßigkeit
I. Zuständigkeit: die Schule, nach außen vertreten durch den
Schulleiter (§ 59 Abs. 2 Nr. 1)
I. Verfahren
1. Entscheidung durch die Teilkonferenz
a. § 53 Abs. 6 Satz 1: grds. Schulleiter
b. Satz 2: Delegation an Teilkonferenz möglich und hier erfolgt
2. Zusammensetzung der Teilkonferenz

a. Schulleiter und Klassenlehrer sind notwendige Mitglieder (+)
b. drei weitere Lehrkräfte/Mitarbeiter: Rechtmäßigkeit der Poollösung?
2.b.i. Wortlaut: „ständige Mitglieder“ spricht gegen Poollösung
2.b.ii. Sinn und Zweck bestehen in Spezialisierung und vertrauensvoller Zusammenarbeit
2.b.iii. im Ergebnis ist Kontinuität gefragt, die durch Poollösung nicht gewährleistet wird

c. Verfahrensfehler (+; a.A. bei guter, an Auslegungsmethodenorientierter Argumentation vertretbar)

d. Heilung möglich gem. § 45 Abs. 1 Nr. 4? nicht einschlägig, weil hier nicht Mitwirkung, sondern eigene

Entscheidung der Teilkonferenz

e. Unbeachtlichkeit gem. § 46? nein, schon wg. Ermessenscharakter der Entscheidung, und es kommt hier konkret in Betracht, dass andere Lehrkräfte/Mitarbeiter anders entschieden hätten
f. Verfahrensfehler liegt vor; keine Heilung möglich
3. Anhörung durch die Teilkonferenz
a. Abs. 8: Schüler (+), Eltern (+)
b. Abs. 6 Satz 1 und 3 im Fall der Delegation an Teilkonferenz zusätzlich erforderlich? Oder § 28 VwVfG

NRW (mit derselben Rechtsfolge wie Satz 1) zusätzlich erforderlich? Dies kann offenbleiben, ist jedenfalls erfolgt; Satz 3 wurde beachtet

c. Nichthinzuziehung des Bevollmächtigten:
3.c.i. Hinzuziehung eigentlich nach § 14 Abs. 1 und
3 VwVfG NRW zu gewährleisten, Ablehnung des Antrags wäre daher verfahrensfehlerhaft
3.c.ii. § 14 VwVfG NRW ist aber nach § 2 Abs. 3 Nr. 3 VwVfG NRW bei Entscheidungen von Schulen nicht anwendbar

3.c.iii. dies steht in einem Normkonflikt mit § 3 BRAO, der zudem besagt, dass das Vertretungsrecht nur durch Bundesgesetz beschränkt werden kann
3.c.iv. da aber das Schulwesen in ausschließlicher Kompetenz der Länder liegt, ist § 3 Abs. 2 BRAO auf kompetenzkonformes Bundesrecht zu beschränken, d.h., er betrifft nicht das Schulverwaltungsverfahren

3.c.v. Vf-Fehler (–)
II. Form (Abs. 9)
1. Schriftform beachtet
2. Begründung erfolgt
3. §§ 37 Abs. 3 Satz 1/44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW: Erkennbarkeit der Behörde

a. Behörde ist nicht die Teilkonferenz, sondern der Schulleiter (§ 59 Abs. 2 Nr. 1)
b. dieser ist nicht bezeichnet; da aber die juristische Person (Schule) genannt wurde, ist die fehlende Bezeichnung der Behörde unschädlich

4. Formelle Rechtmäßigkeit (–) wg. Verfahrensfehlers (Zusammensetzung d. Teilkonferenz)

C. Materielle Rechtmäßigkeit
I. TBV
1. Schüler (+)
2. Pflichtverletzung
a. Pflicht aus § 42 Abs. 3 Satz 1: Mitarbeit an Aufgaben/
Bildungszielen, hier § 2: Würde, Achtung; Verletzung durch Foto- und Videoaufnahmen
b. allgemeine Pflicht zur Einhaltung der Strafgesetze (hier
§§ 22, 33 KUrhG) – Sachverhalt stellt Strafbarkeit fest, diese ist nicht weiter zu prüfen
c. Satz 3: Schulordnung einhalten (sowie Anweisungen der Lehrer befolgen); Verletzung schon durch Handynutzung an sich

3. erzieherische Einwirkungen reichen nicht aus (Satz 3), hier mehrfache Ansprachen, die nicht gefruchtet haben

4. keine Voraussetzung (Contra-Argument von Hugos Seite), dass Funktionsfähigkeit der Schule beeinträchtigt ist

(dies nur für Entlassung und deren Androhung, s. Abs. 4)
II. Rechtsfolge

1. § 53 Abs. 1 Satz 2 ist Ermessensnorm und bietet Entschließungs- und Auswahlermessen

2. Entschließungsermessen: § 53 Abs. 1 Satz 1: geordnete Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Schule und der Schutz von Personen und Sachen; Störungen eingetreten und fortdauernd bei allen drei Aspekten:

2.a.i.1. Unterrichtsarbeit: Verbreitung des Videos beeinträchtigt die weiteren Unterrichtsabläufe in der 8c sowie in anderen Klassen
2.a.i.2. Erziehungsarbeit auch beeinträchtigt durch Untergrabung der Autorität von Frau Diemel-Brake

2.a.i.3. Schutz von Personen, hier insbesondere das Recht am eigenen Bild von Frau Diemel-Brake

3. Auswahlermessen: genauere Prüfung auf Ermessensfehler
a. Ermessensausfall; -unterschreitung (–) Teilkonferenz
entscheidet „nach Abwägung aller Möglichkeiten“
b. Ermessensfehlgebrauch:

3.b.i. spezialpräventive (= individuell auf Hugo bezogene) Zielrichtung, dass Hugo zur Einsicht kommt, ist legitim

3.b.ii. generalpräventive Zielrichtung, dass andere abgeschreckt werden, ist ebenfalls legitim; knüpft an persönlichen Verstoß an und ist zweckkonform
3.b.iii. kein Ermessensfehlgebrauch
c. Ermessensüberschreitung/Verhmkt
3.c.i. die Überweisung in eine Parallelklasse ist in § 53

Abs. 3 Nr. 3 SchulG NRW ausdrücklich vorgesehen

3.c.ii. Eignung: nicht „untauglich“
3.c.iii. Erforderlichkeit:
(3.c.iii.1.i.) Erziehungsmittel genügen nicht

(s.o.)

(3.c.iii.1.ii.) unter den Ordnungsmitteln ist dieses eines der mildesten

(3.c.iii.1.iii.) insb. Abs. 3 Nr. 1 nicht ausreichend (nicht gleich geeignet), weil Hugo sich uneinsichtig zeigt

(3.c.iii.1.iv.) keine weitergehende Voraussetzung für diese „Stufe“ („Funktionsfähigkeit des Schulbetriebs“)

3.c.iv. Angemessenheit/Zumutbarkeit: Interessenabwägung geht zuungunsten Hugos aus; seine Belange (Klassenverband …) sind von relativ geringem Gewicht; im Gegenteil spricht Trennung von Finn für die Überweisung (sein eigener Pflichtverstoß war auch gewichtiger als der des Finn); ins Gewicht fallen darüber hinaus die Schwere der Verstöße (Straftat) und das Verhalten nach der Tat (Uneinsichtigkeit, keine Unterbindung der fortdauernden Rechtsverletzung)

III. Materielle Rmkt ist gegeben

Überweisungsentscheidung ist materiell rechtmäßig, aber formell rechtswidrig.

Ausformulierte Lösung
A. Ermächtigungsgrundlage

Die Maßnahme ist rechtmäßig, wenn sie auf einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage beruht und sowohl formell als auch materiell rechtmäßig ist. Ermächtigungsgrundlage ist hier § 53 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 3 Nr. 2 SchulG NRW.

B. Formelle Rechtmäßigkeit
I. Zuständigkeit

Für die Ordnungsmaßnahme zuständig ist die Schule, die gem. §59
Abs. 2 Nr. 1 SchulG NRW durch den Schulleiter vertreten wird.
Diese Zuständigkeitsbestimmung wurde hier gewahrt.

II. Verfahren

Es müssten die einschlägigen Verfahrensvorgaben beachtet worden sein.

1. Entscheidung durch die Teilkonferenz

Fraglich ist, ob die Entscheidung durch die Teilkonferenz recht-
mäßig war. Grundsätzlich besteht nach § 53 Abs. 6 Satz 2 SchulG NRW für den Schulleiter die Möglichkeit, die Entscheidungsbefugnis über Ordnungsmaßnahmen nach Abs. 3 Nr. 1–3, zu denen auch die Überweisung in eine Parallelklasse gehört, an die Teilkonferenz
zu übertragen. Von dieser Möglichkeit hat der Schulleiter Gebrauch
gemacht. Insoweit ist es nicht zu beanstanden, dass die Teilkonferenz
überhaupt entscheidet.

2. Zusammensetzung der Teilkonferenz

Fraglich ist allerdings, ob die Zusammensetzung der Teilkonferenz rechtmäßig war. Nach § 53 Abs. 7 Satz 2 gehören der Teilkonferenz ein Mitglied der Schulleitung, die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer oder die Jahrgangsstufenleiterin oder der Jahrgangsstufenleiter und drei weitere für die Dauer eines Schuljahres zu wählende Lehrerinnen und Lehrer oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als ständige Mitglieder an. Bei Hugo waren mit Herrn de Voss und Herrn Antonin der Schulleiter sowie der Klassenlehrer anwesend.
Außerdem waren drei weitere Lehrer anwesend, die aus einem Pool,
bestehend aus acht Kolleginnen und Kollegen, ausgewählt wurden.

Da im Gesetz von „ständigen Mitgliedern“ gesprochen wird, ist fraglich, ob eine solche Poolbildung rechtmäßig ist.

Dem Wortlaut nach bedeutet „ständig“ etwa „dauerhaft“ oder „kontinuierlich“. Bei der Poollösung werden die Mitglieder je nach Be-
darf und Verfügbarkeit ausgewählt. So kommt es dazu, dass jeder Sitzung verschiedene Personen angehören (können). Damit ist nicht gewährleistet, dass kontinuierlich dieselben Mitglieder der Teilkonferenz angehören.

Nach der teleologischen Auslegung wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass durch die ständigen Mitglieder eine Vergleichbarkeit unter den verschiedenen Fällen, die in der Teilkonferenz behandelt werden, entsteht. Zudem wird durch die Kontinuität eine vertrauensvolle Zusammenarbeit erleichtert. Die Mitglieder sollen gleichzeitig Erfahrungen sammeln, eine Spezialisierung erreichen und im Ergebnis besser einschätzen können, bei welchem Fall welche konkrete Ordnungsmaßnahme geboten ist. Diese Kontinuität wird durch die Poollösung nicht erreicht.1
Somit liegt ein Verfahrensfehler vor.

3. Heilung oder Unbeachtlichkeit

Fraglich ist, ob die Möglichkeit der Heilung besteht. Gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG NRW ist eine Verletzung von Verfahrensfehlern unbeachtlich, wenn der Beschluss eines Ausschusses, dessen Mitwirkung für den Erlass des Verwaltungsakts erforderlich ist, nachträglich gefasst wird. Diese Vorschrift ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da die Teilkonferenz nicht mitwirken, sondern die Entscheidung treffen musste. Wegen dieser grundsätzlich anderen Rolle des Gremiums scheidet auch eine Analogie bzw. ein nicht normierter Fall der Heilung aus.

Auch der § 46 VwVfG ist hier nicht einschlägig, da konkret in Betracht kommt, dass andere Lehrkräfte oder Mitglieder der Teilkonferenz anders entschieden hätten.

Der in der Poollösung liegende Verfahrensfehler wurde somit nicht geheilt und ist auch nicht unbeachtlich, sondern führt zur formellen Rechtswidrigkeit der Entscheidung.

4. Anhörung

Fraglich ist, ob alle weiteren Verfahrensvorgaben eingehalten worden sind.

Dafür müsste gem. § 53 Abs. 8 SchulG NRW zunächst eine Anhörung von Hugo und seinen Eltern stattgefunden haben. Bei einer Anhörung muss der konkret beabsichtigte Verwaltungsakt angekündigt sowie Gelegenheit zur Äußerung zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen innerhalb einer angemessenen Frist gegeben werden.2 Hugo und seinen Eltern wurde – nach ordnungsgemäßer Ladung – in der Teilkonferenz die Möglichkeit gegeben, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. § 53 Abs. 8 SchulG NRW wurde beachtet.

Fraglich ist, ob die grundsätzliche, in Abs. 6 Satz 1 und 3 vorgesehene Anhörung der Eltern und des Klassenlehrers vor Ordnungsmaßnahmen nach Abs. 3 Nr. 1–3 für den hier vorliegenden (und speziell

in Abs. 8 geregelten) Fall der Delegation an die Teilkonferenz zusätzlich erforderlich ist oder von Abs. 8 verdrängt wird; gleichfalls ist fraglich, wie sich die spezialgesetzlichen Anhörungspflichten des
§ 53 SchulG zur allgemeinen Anhörungspflicht nach § 28 VwVfG
NRW verhalten. Dies ist umstritten, kann aber offenbleiben, denn
diesen Anforderungen wurde jeweils Rechnung getragen.
Ein Anhörungsfehler liegt mithin nicht vor.

5. Nichthinzuziehung des Rechtsanwalts

Fraglich ist, ob die Ablehnung des Antrags auf Teilnahme am Anhörungsgespräch des Rechtsanwalts rechtmäßig war. Gem. § 14 Abs. 1 und 3 VwVfG NRW kann sich ein Beteiligter grundsätzlich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen, sodass die Ablehnung des Antrags einen Verfahrensfehler darstellen würde. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 3 VwVfG gilt der § 14 VwVfG indes nicht für die Tätigkeit der Schulen und Hochschulen. Somit ist im Schulverwaltungsverfahren nicht der Anspruch gegeben, dass Beteiligte sich von einem Rechtsanwalt vertreten lassen können.

Fraglich ist, wie diese Regelung sich zu § 3 BRAO verhält. Hiernach ist der Rechtsanwalt der berufene unabhängige Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. Zudem darf sein Recht, in Rechtsangelegenheiten aller Art vor Gerichten, Schiedsgerichten oder Behörden aufzutreten, nach Abs. 2 nur durch ein Bundesgesetz beschränkt werden. Bei § 2 VwVfG NRW handelt es sich freilich um Landesrecht. Somit steht § 3 BRAO in einem Normkonflikt mit § 2 VwVfG NRW. Da aber das Schulwesen in ausschließlicher Kompetenz der Länder liegt, ist § 3 Abs. 2 BRAO auf kompetenzkonformes Bundesrecht zu beschränken, d. h., er betrifft nicht das Schulverwaltungsverfahren.3

Somit war die Ablehnung des Antrags des Rechtsanwalts auf Teilnahme am Anhörungsgespräch rechtmäßig.

III. Form
1. Schriftform und Begründung

Es müssten auch die einschlägigen Formvorschriften beachtet worden sein. Gem. § 53 Abs. 9 SchulG NRW werden Ordnungsmaßnahmen den Eltern schriftlich bekannt gegeben und begründet. Beides – Schriftform und Begründung – wurde hier gewahrt.

2. Erkennbarkeit der Behörde

Gem. der allgemeinen Formvorschrift des § 37 Abs. 3 Satz 1 VwVfG NRW muss die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, erkennbar sein; andernfalls ist der Bescheid nichtig (§ 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW).
Hier hat der Schulleiter auf Blankopapier „Städtische Gesamtschule
Fröndenberg – Die Teilkonferenz“ geschrieben. Dass dieser Zusatz handschriftlich erfolgt, ist zunächst unschädlich, denn ein schriftlicher Bescheid muss natürlich nicht durch EDV-Anlagen erstellt worden sein. Jedoch muss „die Behörde“ erkennbar sein; dies ist nicht die Teilkonferenz, sondern der Schulleiter (s.o. zu § 59 Abs. 2 Satz 1 SchulG).

Dieser wurde hier nicht angegeben. Nach der Rechtsprechung genügt es aber, dass die juristische Person (Schule) genannt wurde; wenn das der Fall ist, ist dem Schutzbedürfnis des Adressaten Rechnung getragen, und die fehlende Bezeichnung der Behörde ist unschädlich.4

Die Formvorgaben wurden mithin gewahrt. Im Ergebnis liegt in der Zusammensetzung der Teilkonferenz ein Verfahrensfehler. Somit ist die Überweisung in die Parallelklasse formell rechtswidrig.

C. Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist, ob die Maßnahme materiell rechtmäßig ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage erfüllt sind und die Behörde die richtige Rechtsfolge gewählt hat.

I. Tatbestandsvoraussetzungen
1. Voraussetzungen von § 59 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW

Zunächst müssten die Tatbestandsmerkmale des § 59 Abs. 1 SchulG NRW vorliegen.

Hugo ist ein Schüler, der sich im Schulverhältnis zu seiner Schule befindet.

Es müsste eine Pflichtverletzung durch Hugo vorliegen. Zunächst ergibt sich aus § 42 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW die Pflicht zur Mitarbeit an Aufgaben bzw. Bildungszielen der Schule. Diese ergeben sich aus § 2 Abs. 2 SchulG NRW. Hierzu zählt u.a. die Achtung vor der Würde des Menschen. Hugo hat Foto- bzw. Videoaufnahmen von Frau Diemel-Brake gemacht und ihre Würde damit verletzt.

Darüber hinaus unterliegt er auch im Schulverhältnis der allgemeinen Verpflichtung zur Einhaltung der Strafgesetze – hier der §§ 22, 23 KUrhG. Hiergegen hat er, wie der Sachverhalt feststellt, verstoßen.

Schließlich ergibt sich aus § 42 Abs. 3 Satz 3 die Pflicht, die Schulordnung einzuhalten und Anweisungen der Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitung und anderer dazu befugter Personen zu befolgen.

Laut Schulordnung ist der Einsatz von Handys, Smartphones etc. im
Unterricht verboten. Hugo verwendet sein Smartphone, um Fotos und eine Videoaufnahme von Frau Diemel-Brakes Gardinenpredigt zu machen. Außerdem ist Hugo schon öfter durch die Handy-
nutzung im Unterricht negativ aufgefallen. Somit liegt auch in der Handynutzung an sich eine Pflichtverletzung.

Es liegen mehrere Pflichtverletzungen durch Hugo vor.

2. Voraussetzung von § 53 Abs. 1 Satz 4 SchulG NRW

Sodann dürften gem. § 53 Abs. 1 Satz 4 SchulG NRW erzieherische Maßnahmen nicht ausreichend sein. Dabei kommt der Schule grds. ein pädagogischer Beurteilungsspielraum zu.5

Hier wurde bereits mehrfach aufgrund der Handynutzung im Unterricht mit Hugo und Finn gesprochen. Auch der Klassenlehrer ist bereits involviert. Trotzdem verwendet Hugo am 13.5.2015 sein Handy im Unterricht. Somit ist ersichtlich, dass die von der Schule angewandten erzieherischen Maßnahmen i.S.d. § 53 Abs. 3 SchulG NRW bislang nicht ausreichend gewesen sind und es folglich auch – als Alternative zu dem hier gewählten Vorgehen – auch zukünftig nicht sein werden.6

3. Voraussetzung von § 53 Abs. 4 SchulG NRW?

Das zugunsten von Hugo vorgetragene Argument, dass die Funktionsfähigkeit der Schule nicht beeinträchtigt und die Ordnungsmaßnahme deshalb überzogen sei,7 ist nicht einschlägig, da die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Schule gem. § 53 Abs. 4 SchulG NRW eine Voraussetzung erst von Ordnungsmaßnahmen nach § 53 Abs. 3 Nr. 4 und 5 ist, nicht aber bereits der hier vorliegenden Maßnahme nach Nr. 3.

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW sind erfüllt.

II. Rechtsfolge

Die Schule müsste mit der Überweisung in die Parallelklasse auch die richtige Rechtsfolge gesetzt und dabei, da es sich um eine Ermes-
sensnorm handelt (§ 53 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW), insbesondere das ihr zustehende Ermessen richtig ausgeübt haben.

§ 53 Abs. 1 Satz 2 bietet der Schule ein Entschließungs- und Auswahlermessen. In diesem Schulverwaltungsverfahren steht der

Schule grundsätzlich ein pädagogischer Beurteilungsspielraum zu.

1. Entschließungsermessen

Zunächst müsste das Entschließungsermessen ordnungsgemäß
ausgeübt worden sein; zu prüfen ist also, ob die Entscheidung der
Schule, überhaupt tätig zu werden, rechtmäßig ist.8

Erzieherische Einwirkungen und Ordnungsmaßnahmen dienen gem. § 53 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW der geordneten Unterrichts und Erziehungsarbeit der Schule sowie dem Schutz von Personen und Sachen. Diesem Zweck der Ermächtigung muss die Ermessensausübung folgen (§ 40 VwVfG NRW). Die Ordnungsmaßnahme wurde ergriffen, weil Hugo seine „Dummheit“ zwar eingeräumt, sich aber bislang noch nicht bei Frau Diemel-Brake entschuldigt oder seine Pflichtverletzung bekannt hat.

Damit soll die geordnete Unterrichtsarbeit gefördert werden, da zum einen in Hugos Klasse durch ihn und seinen Freund Finn häufig Störungen vorkommen und zum anderen durch die Verbreitung des Videos von Frau Diemel-Brake auch in anderen Klassen ein geordneter Unterricht erheblich beeinträchtigt ist. Da Hugo uneinsichtig ist, wird diese Störung perpetuiert; dies würde prognostisch umso mehr gelten, sollte es zu weiteren Vorkommnissen durch ihn oder andere Schüler kommen.

Außerdem soll so die Erziehungsarbeit gefördert werden, da durch die Ordnungsmaßnahme einer Untergrabung von Frau Diemel-Brakes Autorität entgegengewirkt wird, die fortdauernd und auch für die Zukunft zu befürchten ist. Schließlich dient die Maßnahme auch dem Schutz von Personen. Es soll Frau Diemel-Brakes Recht am eigenen Bild geschützt werden, da ohne Ergreifung einer Maßnahme diese Verletzung fortdauert und eine Vertiefung droht.

Nach alledem ist es gerechtfertigt, die fehlende Einsicht sowie die Verweigerung einer Entschuldigung und Verhinderung der Verbreitung des Fotos und Videos zum Anlass für die Ordnungsmaßnahme zu nehmen, zumal bereits bejaht wurde, dass erzieherische Maßnahmen nicht ausreichend sind (s.o.).

Das Entschließungsermessen wurde ordnungsgemäß ausgeübt.

2. Auswahlermessen

Fraglich ist, ob die Schule auch bei der Auswahl der Ordnungsmaßnahme ermessensfehlerfrei gehandelt hat.

Ein Ermessensausfall oder eine Ermessensunterschreitung liegt nicht vor, da die Teilkonferenz laut Sachverhalt alle zur Verfügung stehende Maßnahmen gründlich abgewogen hat.

Es dürfte außerdem kein Ermessensfehlgebrauch vorliegen. Es wurde
bereits festgestellt, dass die Maßnahme grundsätzlich dem Zweck des
§ 53 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW entspricht. Im Einzelnen verfolgt die hier konkret ausgewählte Maßnahme der Überweisung in die Parallelklasse zwei Zielrichtungen, nämlich eine spezialpräventive (also individuell auf Hugo bezogene) sowie eine generalpräventive Zielrichtung, mit der eine Abschreckungswirkung gegenüber anderen Schülern erreicht werden soll. Die spezialpräventive Absicht, Hugo zur Einsicht zu bewegen, ist ohne Weiteres zweckkonform. Fraglich ist, ob auch die generalpräventive Zielrichtung, dass andere abgeschreckt werden, legitim ist. Zum einen lässt sich die Generalprävention zwanglos unter die gesetzliche Zwecksetzung des § 53 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW subsumieren, denn wie der vorliegende Fall auch anschaulich macht, wird die geordnete Unterrichts- und Erziehungsarbeit etc. durch die Abschreckungswirkung unterstützt. Zum anderen ist nach der gesetz-
lichen Struktur persönliches Fehlverhalten stets Tatbestandsvoraussetzung, sodass es keine rein generalpräventive Maßnahme geben kann; so hat vorliegend auch Hugo selbst den Anlass für die Verbreitung des Fotos und der Videos gesetzt und sich auch geweigert, dies künftig zu unterbinden. Die (auch) generalpräventive Zielsetzung ist mithin zulässig.9 Ein Ermessensfehlgebrauch liegt nicht vor.

Schließlich dürfte auch keine Ermessensüberschreitung vorliegen. Zu-
nächst ist die Überweisung in eine Parallelklasse eine in § 53 Abs. 3 Nr. 3 SchulG NRW ausdrücklich vorgesehene Ordnungsmaßnahme, sodass die unmittelbaren gesetzlichen Grenzen gewahrt bleiben.

Insbesondere müsste die Maßnahme sodann verhältnismäßig sein,10 wie § 53 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW ausdrücklich und deklaratorisch festhält. Die Verweisung in eine Parallelklasse müsste zur Erreichung des vorgenannten Zwecks des § 53 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW geeignet, erforderlich und angemessen sein.

Geeignet ist die Maßnahme, wenn der angestrebte Zweck durch sie
zumindest gefördert wird.11 Die Überweisung in eine Parallelklasse
ist nicht „untauglich“. Zwar beseitigt sie die Pflichtverletzung nicht; jedoch haben Ordnungsmaßnahmen keine rückwirkende Sanktions-
oder Restitutionsfunktion, sondern sollen auf das zukünftige Verhalten einwirken; es genügt die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass Hugo in Zukunft seine Pflichten als Schüler erfüllt. Da die Überweisung hier zusätzlich eine Trennung von Finn zur Folge hat, ist zu erwarten, dass Hugo seinen Fehler einsieht und bemerkt, dass eine Pflichtverletzung ernsthafte, unangenehme Folgen haben kann und so zukünftig sein Verhalten ändern wird. Damit ist die Maßnahme geeignet.

Erforderlich ist die Überweisung in die Parallelklasse, wenn zur Förderung des Zwecks kein anderes, weniger belastendes, aber gleich geeignetes Mittel zur Verfügung steht.12 Mildere Mittel wären erzieherische Einwirkungen wie z.B. ein Gespräch mit Hugo und seinen Eltern oder ein schriftlicher Verweis. Da es bereits ausführliche Gespräche mit Hugo und seinen Eltern gegeben hat, diese aber ohne Erfolg geblieben sind, ist nicht zu erwarten, dass ein erneutes Gespräch Hugo zur Einsicht bringen würde. Ein schriftlicher Verweis wäre zwar ein milderes Mittel, da Hugo jedoch bislang keine Einsicht zeigt und sich weder bei Frau Diemel-Brake entschuldigt noch die Fotos und Videos gelöscht und dessen Verbreitung gestoppt hat, wären diese nicht ausreichend. Es ist nicht zu erwarten, dass Hugo einen schriftlichen Verweis ernst nehmen würde und sein Verhalten sich aufgrund dessen verbessern würde.

Außerdem ist zu beachten, dass die Überweisung in eine Parallelklasse immer noch eine der mildesten Ordnungsmaßnahmen ist. Es ist auch nicht so, dass diese an weitergehende Voraussetzungen geknüpft wäre (etwa die „Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Schulbetriebs“, die lediglich für die noch einschneidenderen Maßnahmen gefordert wird). Die Erforderlichkeit ist somit gegeben.

Die Angemessenheit (oder: Zumutbarkeit) liegt vor, wenn Hugo kein Nachteil zugefügt wird, der deutlich außer Verhältnis zum angestrebten Ziel steht, also unzumutbar ist.13 Unter den Nachteilen, die Hugo durch die Überweisung in eine Parallelklasse hat, findet sich vor allem der Verlust des vertrauten Klassenverbands. Er muss sich auf neue Mitschüler und auch auf andere Lehrer einstellen. Vor allem seinen besten Freund Finn wird er während des Unterrichts nicht mehr bei sich haben. Der Verlust des Klassenverbands bedeutet zwar eine Unannehmlichkeit und kann für einen Zwölfjährigen nicht leicht sein, jedoch ist es wahrscheinlich, dass Hugo sich an die neue Situation und die neuen Leute schnell gewöhnen wird.

Dieser Nachteil, der Hugo entsteht, fällt also relativ gering ins Gewicht. Im Gegenteil spricht gerade die Trennung von Finn für die Überweisung in eine andere Klasse, da Finn und Hugo gemeinsam häufiger den Unterricht stören und so diese Möglichkeit des gemeinsamen Störens nicht mehr besteht. Dass Hugos Pflichtverstoß schwerwiegender war als der von Finn, spricht dafür, Hugo in eine Parallelklasse zu überweisen und nicht Finn. Gegenüber der gewissen Stigmatisierung, die mit der Ordnungsmaßnahme einhergeht, fällt die Schwere der Verstöße ins Gewicht: Hugo hat durch die Verbreitung der Fotos und Videos eine Straftat begangen und kein Bagatelldelikt. Auch sein Verhalten nach der Pflichtverletzung (seine Uneinsichtigkeit und keine Bemühungen, den Fehler zu beseitigen und die Verbreitung der Videos zu verhindern und somit die fortdauernde Rechtsgutverletzung zu unterbinden) sprechen für diese Ordnungsmaßnahme. Somit ist die Maßnahme auch angemessen.

Die Maßnahme ist materiell rechtmäßig, aufgrund des Verfahrensfehlers aber formell rechtswidrig.


Thorsten Attendorn*
Eine Standpauke geht viral**

* Prof. Dr. Thorsten Attendorn ist Professor an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Abteilung Gelsenkirchen, Außenstelle Dortmund. Die Klausur wurde in dem im ersten Studienjahr verorteten Modul „Allgemeines Verwaltungsrecht“ zur Prüfung gestellt.

** Die Aufgabenstellung finden Sie in der DVP 8-2021 S. 329 f.

1 OVG NRW, Beschl. v. 26.5.2014 – 19 B 203/14. [Die Gegenauffassung ist bei entsprechender Begründung vertretbar.]

2 Vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 28, Rn. 12; ähnlich auch Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 28, Rn. 34.

3 VG Düsseldorf, Urt. v. 14.4.2010 – 18 K 4441/09. [Diese kompetenzielle Dimension des Rechtsproblems konnte von den Bearbeitern nicht erwartet werden. Es sollte lobend berücksichtigt werden, wenn § 2 VwVfG NRW herangezogen wurde.]

4 OVG NRW, Beschl. v. 7.10.2009 – 15 A 3141/07; vgl. VG Frankfurt, Urt. v. 25.2.2002 – 9 E 3090/00. [Auch hier kann nur erwartet werden, dass die Bearbeiter sachgerecht mit § 37 VwVfG umgehen.]

5 S. nur OVG NRW, Beschl. v. 17.6.2014 – 19 B 679/14.

6 [Dies kann – als deren spezielle Ausprägung – natürlich auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung – Erforderlichkeit – thematisiert werden.]

7 [Auch diese Formulierung weist auf einen Bezug zur Verhältnismäßigkeitsprüfung; gleichwohl wird es hier aus didaktisch-methodischen Erwägungen vorgezogen, die gesetzlichen Normierungen auf Tatbestandsseite abzuarbeiten.]

8 [An dieser Stelle wird auf eine Ausdifferenzierung der Ermessensfehler verzichtet, die sich eher beim Auswahlermessen anbietet. An dieser Stelle soll vielmehr anhand des Normzwecks (vgl. § 40 VwVfG) der grundsätzliche Einstieg in die Ermessensprüfung genommen und anhand des ob des Tätigwerdens die Grundausrichtung auf den Prüfstand gestellt werden. Freilich gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die Prüfung aufzubauen und die Prüfpunkte zuzuordnen.]

9 OVG NRW, NVwZ-RR 2015, 34.

10 [Alternativ zu der hier vertretenen Einordnung der Verhältnismäßigkeit als Prüfpunkt der Ermessensüberschreitung kann dies im Rahmen des Ermessensfehlgebrauchsoder als eigenständiger Prüfpunkt außerhalb der Ermessensfehlerlehre thematisiert werden.]

11 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10, Rn. 51.

12 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10, Rn. 51.

13 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10, Rn. 51.