Fall 19 – Der entbehrliche Straßenabschnitt

Der entbehrliche Straßenabschnitt** –
Holger Weidemann* – Online-
Fallbearbeitung

Den Sachverhalt zum Fall finden Sie in der Ausgabe 10/2021 der Zeitschrift

DVP – Fachzeitschrift für die öffentliche Verwaltung

auf Seite 403 ff.

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* Prof. Holger Weidemann war viele Jahre Vizepräsident der Kommunalen Hochschule
für Verwaltung in Niedersachsen (HSVN) und Ausbildungsleiter des Niedersächsischen
Studieninstituts.

** Die Aufgabenstellung finden Sie in der DVP 10-2021 S. 403 ff.

Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn die Sachurteilsvorausset-zungen vorliegen und soweit sie begründet ist.

Sachurteilsvoraussetzungen

Im Zuge einer problemorientierte Bearbeitung der Angelegenheit sind vorliegend lediglich die Punkte

  • Statthaftigkeit der Klage
  • Entbehrlichkeit des Vorverfahrens
  • ordnungsgemäße Klageerhebung und • Klagebefugnis

zu bearbeiten.1

Statthaftigkeit der Klage

Statthafte Klageart könnte die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sein. Dann müsste der Klä-ger Rehm die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehren. Der Klä-ger wendet sich gegen die Einziehung der bisher öffentlichen Straße Am hohen Berg. Bei der Maßnahme der Stadt Syke vom 2.9.2021 könnte es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 Verwaltungsver-fahrensgesetzes (VwVfG) handeln. Die Einziehungsentscheidung wäre aber nur dann als Verwaltungsakt zu qualifizieren, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 Satz 1 VwVfG vorlie-gen. Zweifelhaft könnte allein das Merkmal „Einzelfall“ sein. Ein Einzelfall läge vor, wenn es einen konkreten Sachverhalt und einen individuellen Adressaten gäbe. Ist der Sachverhalt noch hinreichend konkret, da es allein um den ca. 78,50 m langen Straßenabschnitt der Straße am Hohen Berg geht, so kann nicht von einem individuel-len Adressaten ausgegangen werden. Mit einer Widmung i.S.d. § 6 Nds. Straßengesetzes (NStrG) wird zugleich der Gemeingebrauch eröffnet. Damit kann jedermann diesen Straßenabschnitt – ohne Zulassung – nutzen. Mit der Einziehung einer Straße, als Gegenakt zur Widmung, wird damit der Allgemeinheit die Nutzung dieses Straßenabschnittes entzogen. Damit fehlt es an einer tatbestandli-chen Voraussetzung des § 35 Satz 1 VwVfG. Es könnte aber eine Fallgruppe des § 35 Satz 2 VwVfG zum Tragen kommen. Dann wäre die Einziehung der Straße als Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 VwVfG einzustufen. Die Einziehung könnte die öffentlich-recht-liche Eigenschaft einer Sache betreffen (§ 35 Satz 2 Var. 2 VwVfG).

 

Die Einziehungsentscheidung bezieht sich unmittelbar auf eine vorhandene Widmung einer Straße als statusbegründende Allge-meinverfügung. Dieser öffentlich-rechtliche Status der Straße wird durch die Einziehung wieder behoben. Die Einziehung ist daher eine Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 Var. 2 VwVfG.2

Da der Kläger die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt, ist die statthafte Klageart die Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO.

Entbehrlichkeit des Vorverfahrens

Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist regelmäßig vor Erhebung der Anfechtungsklage die Recht- und Zweckmäßigkeit eines Verwal-tungsakts in einem Vorverfahren zu überprüfen.3 Eine andere Beur-teilung könnte dann geboten sein,wenn eine Ausnahme nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO greift. Hier könnte eine Ausnahme durch Ge-setz nach § 68 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 VwGO greifen. Das NStrG sieht keine entsprechende Regelung vor. Hier könnte aber durch § 80 Nds. Justizgesetz (NJG)4 eine Ausnahme begründet worden sein. So findet nach § 80 Abs. 1 NJG vor Erhebung der Anfechtungsklage abweichend von § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Nachprüfung in ei-nem Vorverfahren nicht statt. Da der Kläger eine Anfechtungsklage anstrengt, könnte diese Ausnahme greifen. Eine andere Beurteilung wäre dann geboten, wenn § 80 NJG eine Ausnahme vorsehen würde. So werden in § 80 Abs. 2 NJG Rechtsbereiche aufgeführt, in de-nen, abweichend von § 80 Abs. 1 NJG, gleichwohl ein Vorverfahren durchzuführen ist. Das NStrG ist hier nicht aufgeführt. Damit ver-bleibt es bei der Grundregel des NJG.

Vor Erhebung der Anfechtungsklage ist daher kein Vorverfahren durchzuführen.

Ordnungsgemäße Klageerhebung

Die Klage ist nach § 81 Abs. 1 VwGO in einer bestimmten Form zu erheben. Der Kläger hat die Klage schriftlich und damit in der richtigen Form nach § 81 Abs. 1 Satz 1 VwGO erhoben. Zudem formuliert § 82 Abs. 1 VwGO bestimmte Anforderungen an den Inhalt der Klageschrift. So muss sie den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand der Klage benennen. Diese Informationen sind in der Klageschrift enthalten. Auch sind die zur Begründung dienen-den Tatsachen angegeben worden.

Die Klageschrift ist formgerecht eingereicht (§ 81 Abs. 1 VwGO) und sie entspricht den Anforderungen des § 82 Abs. 1 VwGO.

Der entbehrliche Straßenabschnitt

Klagebefugnis

 

Der Kläger müsste nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt sein. Dies wäre er, wenn er geltend machen könnte, durch den Verwaltungs-akt, hier die Umstufungsentscheidung, in seinen Rechten verletzt zu sein. Da die Umstufungsentscheidung nicht unmittelbar an den Kläger gerichtet war, ist zu klären, ob die tragende Rechtsgrundlage auch ein subjektiv öffentliches Recht zugunsten des Klägers entfal-tet. Dies wäre der Fall, wenn nach Maßgabe der Schutznormtheorie5 § 8 NStrG auch im Interesse eines Einzelnen erlassen worden ist. Über die Einziehung einer Straße wird allein nach dem öffentlichen Interesse entschieden. Es wird allein an objektiv-rechtliche Voraus-setzungen, hier die Verkehrsbedeutung, angeknüpft. Dagegen sind konkrete Rechtbeziehungen zu bestimmten Personen nicht unmit-telbar betroffen. So bestimmt auch § 14 Abs. 2 NStrG, dass auf die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs kein Rechtsanspruch besteht. Auch wenn der Kläger gelegentlich den strittigen Straßen-abschnitt nutzt, begründet dies kein subjektiv-öffentliches Recht Einzelner. Eine andere Beurteilung könnte aber betroffen sein, wenn das Grundstück des Klägers durch diese Straße erschlossen würde.

 Holger Weidemann

 

Insoweit könnte eine durch Art.14 Abs. 1 Grundgesetz geschützte Rechtsposition bestehen. Eine derartige Situation ist hier aber nicht gegeben. Das Grundstück des Klägers liegt an der Nordwohlder Straße, ca. 140 m vom Einmündungsbereich der Straße Am hohen Berge in die Nordwohlder Straße entfernt.

 

Damit fehlt es dem Kläger an der Klagebefugnis.

 

Ergebnis

 

Die Klage ist unzulässig.

 

Entscheidungsvorschlag

 

  1. Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Akten verpflichtet. Damit ist die vorhandene Verwaltungsakte dem Gericht zuzuleiten.

 

  1. Dem Gericht ist mitzuteilen, dass nach Auffassung der Stadt die Klage unzulässig ist. Es fehlt an der Klagebefugnis.

 

1.2 Schreiben an das Gericht

 

Stadt Syke

Die Bürgermeisterin

Heinrich-Hanno-Platz 1 * 28857 Syke

 

1.) An das

Verwaltungsgericht Hannover ab: 4.11.2021 7. Kammer

 

 

28857 Syke, den 4.11.2021

AZ.: 44/224-2021

 

In der Verwaltungsrechtssache

Walter Rehm                     ./.                       Stadt Syke

                                                                 Vertreten durch die Bürgermeisterin

GZ.: 7 VG 134/21

 

In der obigen Verwaltungsrechtssache werden hiermit die vorhandenen Verwaltungsakten übersandt (Anlage6).

Ich bitte die Klage zurückzuweisen, da die Klage unzulässig ist. Dem Kläger fehlt die nach § 42 Abs. 2 VwGO notwendige Klagebefugnis. § 8 NStrG ist allein im öffentlichen Interesse erlassen worden. Da der Kläger, außer der Nutzung dieser Straße, keine besondere Beziehung zu dieser Straße hat, ist er nicht Straßenanlieger und kann keine wehrfähige Rechtsposition geltend machen.

Sollte das Gericht die Rechtsauffassung der Stadt hinsichtlich der mangelnden Zulässigkeit der Klage nicht teilen, wird um einen entspre-chenden Hinweis gebeten. Insoweit bleibt ein weiterer Sachvortrag vorbehalten.

Martina Lause

 

Niedersächsisches Straßengesetz (NStrG)

in der Fassung vom 24. September 1980,

zuletzt geä. durch Artikel 1 des Gesetzes vom 16.03.2021 (Nds. GVBl. S. 133)

 

Auszug

 

§6 

Widmung

(1) 1Die Widmung für den öffentlichen Verkehr wird durch den Träger der Straßenbaulast ausgesprochen. 2Soll eine nicht dem Land oder einer sonstigen Gebietskörperschaft gehörende Straße für den öffentlichen Verkehr gewidmet werden, so spricht die Straßenauf-sichtsbehörde auf Antrag des künftigen Trägers der Straßenbaulast (§ 54) die Widmung aus.3Soweit die Straße nicht im Außenbereich einer Gemeinde (§ 19 Abs. 1 Nr. 3 des Baugesetzbuchs) verläuft, ist die Widmung nur nach Anhörung der Gemeinde zulässig. 4Bei der Widmung sind die Straßengruppe, zu der die Straße gehört, sowie Beschränkungen der Widmung auf bestimmte Benutzungsarten oder Benutzerkreise festzulegen.

(2) Voraussetzung für die Widmung ist, daß der Träger der Straßenbaulast Eigentümer des der Straße dienenden Grundstücks ist oder der Eigentümer und ein sonst zur Nutzung dinglich Berechtigter der Widmung zugestimmt haben oder der Träger der Straßenbaulast den Besitz durch Vertrag, durch Einweisung nach § 41 a oder in einem sonstigen gesetzlich geregelten Verfahren erlangt hat.

(3) Die Widmung ist öffentlich bekanntzumachen.

(4) Durch privatrechtliche Verfügungen oder durch Verfügungen im Wege der Zwangsvollstreckung über die der Straße dienenden Grundstücke oder Rechte an ihnen wird die Widmung nicht berührt.

(5) 1Bei Straßen, deren Bau in einem Planfeststellungsverfahren oder in einem Bebauungsplan geregelt wird, kann die Widmung in diesem Verfahren mit der Maßgabe verfügt werden, daß sie mit der Verkehrsübergabe wirksam wird, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 in diesem Zeitpunkt vorliegen.2Der Träger der Straßenbaulast hat den Zeitpunkt der Verkehrsübergabe, die Straßengruppe sowie Beschrän-kungen der Widmung mit einem Hinweis auf die zugrunde liegende Anordnung öffentlich bekanntzumachen.

(6) 1Wird eine Straße verbreitert, begradigt, unerheblich verlegt oder ergänzt, so gilt der neue Straßenteil durch die Verkehrsübergabe als gewidmet, sofern die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen.2Einer öffentlichen Bekanntmachung nach Absatz 3 bedarf es in diesem Falle nicht.

 

§8

Einziehung

(1) 1Hat eine Straße keine Verkehrsbedeutung mehr oder liegen überwiegende Gründe des öffentlichen Wohles für ihre Beseitigung vor, so soll sie vom Träger der Straßenbaulast eingezogen werden.2Die Teileinziehung einer Straße soll angeordnet werden, wenn nachträglich Beschränkungen der Widmung auf bestimmte Benutzungsarten oder Benutzerkreise aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Wohls festgelegt werden.3Bei Landesstraßen und Kreisstraßen bedarf es dazu der Zustimmung der Straßenaufsichtsbehörde; soweit die Straße nicht im Außenbereich einer Gemeinde (§ 19 Abs. 1 Nr. 3 des Baugesetzbuchs) verläuft, ist auch die Zustimmung der Gemeinde erforderlich. 4Bei Straßen, die weder dem Land noch einer sonstigen Gebietskörperschaft gehören, spricht die Straßenaufsichtsbehörde die Einziehung aus.

(2) 1Die Absicht der Einziehung ist mindestens drei Monate vorher in den Gemeinden, die die Straße berührt, ortsüblich bekanntzugeben. 2Von der Bekanntgabe kann abgesehen werden, wenn die zur Einziehung vorgesehenen Teilstrecken in den in einem Planfeststellungs-verfahren ausgelegten Plänen oder in einem Bebauungsplan als solche kenntlich gemacht worden sind oder Teilstrecken in Fällen von unwesentlicher Bedeutung (§ 38 Abs. 3) eingezogen werden sollen.

(3) Die Einziehung ist mit Angabe des Tages, an dem die Eigenschaft als Straße endet, öffentlich bekanntzumachen. (4) Mit der Einziehung einer Straße entfallen Gemeingebrauch (§ 14) und widerrufliche Sondernutzungen ( §§ 18 ff.).

(5) § 6 Abs. 5 gilt sinngemäß mit der Maßgabe, daß die Einziehung der Straße in dem Zeitpunkt wirksam wird, in dem sie dem öffentlichen Verkehr tatsächlich entzogen wird.

(6) 1Wird eine Straße begradigt, unerheblich verlegt oder in sonstiger Weise den verkehrlichen Bedürfnissen angepaßt und wird damit ein Teil der Straße dem Verkehr auf Dauer entzogen, so gilt dieser Teil mit der Sperrung als eingezogen.2Einer Ankündigung und Bekannt-machung bedarf es nicht.

 

§14

Gemeingebrauch

(1) 1Der Gebrauch der Straße ist jedermann im Rahmen der Widmung und der Verkehrsvorschriften zum Verkehr gestattet (Gemeinge-brauch).2Im Rahmen des Gemeingebrauchs hat der fließende Verkehr den Vorrang vor dem ruhenden.3Kein Gemeingebrauch liegt vor, wenn jemand die Straße nicht vorwiegend zum Verkehr, sondern zu anderen Zwecken benutzt.

(2) Auf die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs besteht kein Rechtsanspruch.

(3) 1Für die Ausübung des Gemeingebrauchs dürfen Gebühren nur auf Grund besonderer gesetzlicher Vorschriften erhoben werden. 2Für die Benutzung einer Fähre, die nach § 2 Abs. 4 Satz 1 zu einer Straße gehört, dürfen Entgelte erhoben werden.

 

Niedersächsisches Justizgesetz

Auszug

§80

Vorverfahren

(1) Vor Erhebung der Anfechtungsklage findet abweichend von § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Nachprüfung in einem Vorverfahren nicht statt.

(2) 1Absatz 1 gilt nicht für Verwaltungsakte,

  1. denen eine Bewertung einer Leistung im Rahmen einer berufsbezogenen Prüfung zugrunde liegt,
  2. die von Schulen oder nach § 27 des Niedersächsischen Schulgesetzes erlassen werden,
  3. die von der Investitions- und Förderbank Niedersachsen (NBank) im Rahmen der ihr nach dem Gesetz über die Investitions- und Förderbank Niedersachsen übertragenen Aufgaben erlassen werden, mit Ausnahme von Verwaltungsakten im Rahmen derWohnraumförde-rung und zur Förderung des Städtebaus einschließlich der städtebaulichen Erneuerung und Entwicklung und der zugehörigen Infrastruktur, 4.     die nach den Vorschriften

a) des Baugesetzbuchs und der Niedersächsischen Bauordnung, b) des Bundes-Immissionsschutzgesetzes,

c) des Kreislaufwirtschaftsgesetzes, der Rechtsvorschriften der Europäischen Union zum Abfallrecht, des Abfallverbringungsgesetzes, des Batteriegesetzes und des Niedersächsischen Abfallgesetzes,

d) des Bundes-Bodenschutzgesetzes und des Niedersächsischen Bodenschutzgesetzes,

e) der den Naturschutz und die Landschaftspflege betreffenden Rechtsvorschriften der Europäischen Union und des Bundes sowie des Landes Niedersachsen,

f) des Wasserhaushaltsgesetzes, des Niedersächsischen Wassergesetzes und des Niedersächsischen Deichgesetzes, g) des Chemikaliengesetzes und des Sprengstoffgesetzes,

h) des Produktsicherheitsgesetzes und des Energieverbrauchsrelevante-Produkte-Gesetzes, i) des Unterhaltsvorschussgesetzes,

j) des Niedersächsischen Umweltinformationsgesetzes,

k) der Strahlenschutzverordnung und der Röntgenverordnung,

l) des Rundfunkgebührenstaatsvertrages und des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages, m) des Dritten Teils des Kammergesetzes für die Heilberufe,

n) der Niedersächsischen Verordnung über Führungen auf Wattflächen,

o) des Arbeitsschutzgesetzes, des Jugendarbeitsschutzgesetzes, des Mutterschutzgesetzes und des Arbeitszeitgesetzes,

p) des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie des Fahrpersonalgesetzes, q) des Abschnitts 4 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes und

r) des Gentechnikgesetzes

 

sowie der auf diesen Rechtsvorschriften beruhenden Verordnungen und Satzungen erlassen werden.

 

2In den Fällen des Satzes 1 Nr. 1 bedarf es der Nachprüfung in einem Vorverfahren auch dann, wenn eine oberste Landesbehörde den Verwaltungsakt erlassen hat. 3Soweit die Verwaltungsakte nach Satz 1 Nrn. 2 und 4 Buchst. a bis k und n bis r Abgabenangelegenheiten betreffen, findet ein Vorverfahren nicht statt; Absatz 3 Nr. 1 bleibt unberührt.

Basistext:

Die Allgemeinverfügung nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz

  1. Problemaufriss

Zu den zentralen Handlungsformen der Verwaltung zählt der Verwaltungsakt. Nach § 35 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) handelt es sich dabei um jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist.1 Nun gibt es Fallgestaltungen,in denen eine Vielzahl von Einzelverwal-tungsakten erlassen werden müssten, um die notwendigen verbind-lichen Regelungen herbeiführen zu können.Dieses führt mitunter zu erheblichen administrativen Problemen. Auch gibt es Bereiche, in denen es in der rechtlichen Diskussion umstritten war, ob die behördlichen Anordnungen der Handlungsform Verwaltungsakt oder aber Rechtsverordnung2 zuzuordnen waren. Der Gesetzgeber hat daher das Tatbestandsmerkmal „Einzelfall“ im Satz 2 erweitert und gesetzlich die Allgemeinverfügung eingeführt.3

 

Sachverhalt 1:

 

Von der zuständigen Behörde sind verschiedene Verkehrszeichen aufge­ stellt worden. So wird in der Stadt Nienburg/Weser (Niedersachsen) im Eingangsbereich der Breiten Straße das

 

Hundert Personen bevölkern den Platz. In der aufgeheizten Stimmung droht eine Massenschlägerei. Die Polizei spricht daher für beide Fan­ gruppen einen Platzverweis aus. Diese Anordnung wird durch Laut­ sprecheransage übermittelt.

 

Sachverhalt 4:

Die bisherige Hauptgeschäftsstraße in Bassum wird zu einer Fußgän­ gerzone. Damit dürfen sich auf der öffentlichen Straße vom Anlieger­ und Anlieferverkehr ausgenommen nur noch Fußgänger bewegen. Die notwendige straßenrechtliche Widmungsentscheidung ist in der örtlichen Presse veröffentlicht worden.

 

Sachverhalt 5:

Die Bauaufsichtsbehörde erteilt für das Grundstück in Mendig, Sie­ mensstraße 24 die Baugenehmigung zur Errichtung einer gewerblichen Lagerhalle.

 

Aufgabenstellung:

Es ist zu klären, welchen Rechtscharakter die angesprochenen behörd-lichen Maßnahmen haben.

 

  1. Begriff und Arten der Allgemeinverfügung

und auf der vierspurigen Umgehungsstraße das Zeichen 274 (zulässige Höchstgeschwindigkeit: 70 km) angebracht.

 

Sachverhalt 2:

In der Fußgängerzone der Landeshauptstadt Hannover haben fünf er­ wachsene Personen sich auf einer Decke niedergelassen und versuchen durch aggressives Betteln, Passanten zu einer Geldspende zu bewegen. Da Passanten diesen Bereich meiden, ruft der Inhaber des Bekleidungs­ geschäfts Weigand die Polizei. Diese spricht einen Platzverweis aus.

Sachverhalt 3:

 

Auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln haben sich nach einem Bundes­ ligaspiel spontan zwei rivalisierende Fangruppen versammelt. Mehrere

*     Prof. Holger Weidemann ist Vizepräsident der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen (HSVN).

1     Eingehend zum Begriff des Verwaltungsakts s. Suckow/Weidemann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl., Rn. 88 ff.

2     Zu den Konsequenzen s. nur Ausführungen zu Ziff. 3.

3     Rechtsprechung und Literatur haben bereits frühzeitig die Rechtsfigur der All-gemeinverfügung entwickelt; s. nur BVerwGE 12, 87; Schoch, Friedrich, Jura, 2012, S. 26 ff. [27].

 

 Nach § 35 Satz 2 VwVfG ist eine Allgemeinverfügung ein Ver-waltungsakt, der sich nach allgemeinen Merkmalen an einen be-stimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffent-lich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft. Damit hat der Gesetzgeber entschieden, dass die Allgemeinverfügung VA-Qualität aufweist und diese An-ordnungen von der Rechtsnorm abgegrenzt. Dies bedeutet, dass eine Allgemeinverfügung nur dann vorliegt, wenn einerseits einer der drei Fallgruppen des § 35 Satz 2 VwVfG einschlägig ist und zudem die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 Satz 1 VwVfG vorliegen.

 

Beim Sachverhalt 1 [Anordnung Verkehrszeichen] geht es beim Zeichen 432 um einen Pfeilwegweiser zu Zielen mit erheblicher Verkehrsbedeu­ tung. Es besteht für Verkehrsteilnehmer jedoch nicht die Verpflichtung, diesen Wegweisern zu folgen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Da­ mit fehlt dieser behördlichen Maßnahme der Regelungscharakter4 i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG. Dieses Verkehrszeichen kann daher auch nicht als Allgemeinverfügung eingestuft werden.

 

4     Eine (einseitige) Regelung i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG liegt dann vor, wenn durch die Maßnahme der Behörde eine verbindliche Rechtsfolge gesetzt wird; d.h., wenn Rechte des Betroffenen unmittelbar begründet, geändert, aufgehoben mit bindender Wirkung festgestellt oder verneint werden (Hennecke/Berger in: Knack/Hennecke [Hrsg.], VwVfG-Kommentar, 11. Aufl., § 35 Rn. 37 m.N.; zu Regelungsarten s. Suckow/Weidemann,Fn. 1, Rn. 94].

 

Die Allgemeinverfügung nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz

 

  • 35 Satz 2 VwVfG sieht drei Fallgruppen von Allgemeinverfü-gungen vor:

 

Abb.: 1

 

Benutzungsregelung

Allgemeinverfügung

 

personenbezogene sachbezogene Allgemeinverfügung                            Allgemeinverfügung

 

bestimmter oder bestimmbarer bestimmte öffentl.-rechtl. Personenkreis                 Eigenschaft einer Sache

 

Die personenbezogene/adressatenbezogene Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 Var. 1 VwVfG) richtet sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis. Damit wird zunächst eine Regelung erfasst, bei denen der Adressatenkreis objektiv feststeht, die betroffenen Personen der Behörde aber nicht namentlich bekannt sind (z.B. Anordnung gegenüber allen Hausbesit­ zern in einem Stadtteil der Stadt).5 Der Personenkreis ist nach allge-meinen Merkmalen bestimmbar, wenn er der Behörde bei Erlass der Anordnung zwar noch nicht bekannt ist, er aber in diesem Zeitpunkt bereits objektiv feststeht und die Behörde – bei ausreichender Zeit – die Möglichkeit hätte, ihn festzustellen.

 

Beim Sachverhalt 3 steht der Personenkreis objektiv fest. Es sind die beiden Fangruppen,die sich aufdem Bahnhofsvorplatz gegenüberstehen. Die betroffenen Personen sind damit gattungsmäßig bestimmbar: Fan­ gruppe A und B. Bei ausreichender Zeit könnte die Polizei alle Personen individuell identifizieren und den Platzverweis übermitteln. Es han­ delt sich damit um eine Allgemeinverfügung i.S.v. § 35 Satz 2 Var. 1 VwVfG.

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat im Interesse eines effektiven Verwaltungshandelns den Anwendungsbereich des § 35 Satz 2 VwVfG ausgedehnt. Für ein Vorliegen einer Allgemeinverfügung reicht es danach bereits aus, wenn der Adressatenkreis im Zeitpunkt des Erlasses im Wesentlichen bestimmt oder bestimmbar ist (Bei-spiel:Verbot einer geplanten Demonstration6).7

 

Der Personenkreis für eine Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 Satz 2 Var. 1 VwVfG muss nicht mehr konkret feststellbar sein, es reicht vielmehr aus, wenn der Kreis der Betroffenen gattungsmäßig be-nannt werden kann8 (z.B. Hauseigentümer eines Ortsteils, Gastro-nomen einer Stadt, Demonstrationsteilnehmer). Mitunter kann es Schwierigkeiten bereiten zu bestimmen, wann die gattungsmäßige Bestimmtheit durch Bezug auf den konkreten Sachverhalt um-schlägt in eine abstrakt-generelle Regelung und damit die behörd-liche Maßnahme den Charakter einer Allgemeinverfügung verliert.9 Es ist auf den Einzelfall abzustellen.

5     Vgl.Hildebrandtin:Hofmann/Gerke/Hildebrandt,AllgemeinesVerwaltungs-recht, 11. Aufl., Rn. 343.

6     Vgl. BVerwGE, 69, 315.

7     Suckow/Weidemann, Fn. 1, Rn. 104 m.N.

8     Stuhlfauth,in: Obermayer/Funke-Kaiser (Hrsg.), § 35 Rn. 127. 9     Hennecke/Berger,Fn. 4, § 35 Rn. 204 m. Anwendungsbeispielen.

Eindeutig ist die Anordnung beim Sachverhalt 2 als Verwaltungsakt zu qualifizieren. Da es sich hier aber nur um fünf konkret anwesende Personen handelt, liegt keine Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 Satz 2 Var. 1 VwVfG vor. Es liegen Einzelanordnungen gegenüber fünf Ad­ ressaten vor.

Keine Allgemeinverfügung liegt bei sog. Sammelverfügungen vor. Von Sammelverfügungen wird gesprochen, wenn eine Vielzahl ein-zelner Verwaltungsakte, deren unmittelbare personale Adressaten und die geregelten Sachverhalte im Zeitpunkt des Erlasses bestimmt sind.

Eine Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 Satz 2 Var. 2 VwVfG ist ein Verwaltungsakt, der die öffentlich-rechtliche Eigenschaft von Sa-chen regelt. Gegenstand der Regelung sind damit nicht mögliche Rechte und Pflichten von Personen, sondern der rechtliche Zustand von Sachen. Klassisches Beispiel ist die straßenrechtlicheWidmung. Damit handelt es sich beim Sachverhalt 4 um eine Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 Satz 2 Var. 2 VwVfG. Die bisherige Funktion der Straße wird durch die neue Widmungsanordnung verändert. Es liegt eine sog. Teileinziehung vor. Anders ist dagegen die Situation zu beurteilen, wenn sich die Regelung der behördlichen Anordnung lediglich auf eine Sache bezieht, ohne diese rechtliche zu verändern.Dies ist beim Sachverhalt 5 der Fall.Trotz Baugenehmigung verbleibt es beim privatrechtlichen Charakter des Grundstücks.Ob eine Bebaubarkeit des Grundstücks möglicherweise gegeben war, stand bereits vor Erlass der Baugenehmigung fest. Die Baugenehmigung ist damit ein Verwaltungs­ akt i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG.

Die Benutzungsregelung 35 Satz 2 Var.3 VwVfG) ist eine All-gemeinverfügung, die die Benutzung einer Sache durch die Allge-meinheit regelt. Im Unterschied zur Allgemeinverfügung nach § 35 Satz 2 Var. 2 VwVfG regelt die Benutzungsregelung gerade nicht die rechtliche Eigenschaft einer Sache. Sie definiert Rechte und Pflichten der Benutzer der öffentlichen Sache.

Beim Verkehrszeichen 274 (Sachverhalt 1) handelt es sich um ein Ver­ kehrszeichen mit Regelungscharakter. Es bestimmt, dass in diesem Be­ reich nicht schneller als 70 km gefahren werden darf. Damit wird die Benutzung der öffentlichen Sache Straße geregelt. Das Verkehrszeichen stellt eine Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 Satz 2 Var. 3 VwVfG dar.10

Abb.: 2

Beispiele Verwaltungsakt? Bemerkungen
1 Verkehrszeichen 432 Nein Regelung fehlt
2 Verkehrszeichen 274 § 35 Satz 2 Var. 3
3 Festsetzung der Öffnungszeit einer öffentlichen Einrichtung11 § 35 Satz 2 Var. 3
4 Straßenrechtliche Teileinziehung § 35 Satz 2 Var. 2
5 Widmung einer Straße § 35 Satz 2 Var. 2
6 Eröffnung/Schließung öffentlicher Schlachthof12 § 35 Satz 2 Var. 2
7 Platzverweis I § 35 Satz 1 Einzelanordnungen
8 Platzverweis II § 35 Satz 2 Var. 1 Große Personenan-sammlung
9 Geplante Demonstration § 35 Satz 2 Var. 1
10 Baugenehmigung § 35 Satz 1

 

  1. Abgrenzung Allgemeinverfügung und Rechtsverordnung

Nicht immer einfach ist die Abgrenzung dieser beiden administrati-ven Handlungsformen.Wenig hilfreich für eine Abgrenzung beider Handlungsformen ist beispielsweise auf die mangelnde Bestimmt-heit des betroffenen Personenkreises abzustellen. Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des betroffenen Personenkreises sind gerade Strukturelement der Allgemeinverfügung.13 Hilfreich ist es dagegen, auf das sog. Erlassverfahren zu blicken. So werden Rechtsverord-nungen in einem bestimmten, gesetzlich ausdrücklich vorgegebenen Verfahren erlassen und anschließend in bestimmten Organen pu-bliziert.14 So verlangt das Rechtsstaatsprinzip, dass Rechtsnormen so zu verkünden sind, dass die Allgemeinheit und nicht nur einzel-ne Betroffene sich in verlässlicher Weise Kenntnis vom geltenden Recht verschaffen können. Der Erlass einer Allgemeinverfügung vollzieht sich dagegen regelmäßig nach den Vorgaben des Verwal-tungsverfahrensrechts (vgl. auch § 9 VwVfG) und des entsprechen-den Fachrechts.

 

Die Abgrenzung der Allgemeinverfügung von der Rechtsverord-nung ist von besonderer Bedeutung. Dies betrifft zunächst die Vo-raussetzungen für den Erlass einer entsprechenden Regelung. So dürfen Rechtsverordnungen nur erlassen werden, wenn es eine ent-sprechende gesetzliche Grundlage gibt. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt wer-den (Art.80 Abs. 1 GG).15 Ist die Rechtsverordnung formell oder materiell rechtswidrig, so hat dies die Nichtigkeit zur Folge. Dage-gen ist eine rechtswidrige Allgemeinverfügung regelmäßig wirksam (§ 43 VwVfG) und kann angefochten und aufgehoben werden. Nur ausnahmsweise begründet ein Rechtsfehler die Nichtigkeit des Ver-waltungsakts (§§ 43 Abs. 3, 44 VwVfG). Rechtsschutz gegen eine Rechtsverordnung kommt regelmäßig16 nur dann in Betracht, wenn die Länder dies zugelassen haben (§47 Abs.1 Nr.2Verwaltungsge-richtsordnung). Anders verhält es sich dagegen bei der Allgemein-

verfügung. Diese kann regelmäßig mit dem Widerspruch17 oder der verwaltungsgerichtlichen Klage angefochten werden. Obsiegt der Rechtsschutz suchende Betroffene, so sind auch hier Unter-scheide zu verzeichnen. Kommt im Normenkontrollverfahren das Oberverwaltungsgericht zu der Erkenntnis, dass die angegriffene Rechtsvorschrift ungültig ist, so erklärt es sie für unwirksam (§ 47 Abs. 5 VwGO). In diesem Fall ist die gerichtliche Entscheidung allgemeinverbindlich. Eine erfolgreiche Anfechtung einer Allge-meinverfügung entfaltet dagegen regelmäßig nurWirkungen gegen-über dem rechtschutzsuchenden Betroffenen (sog. Grundsatz der relativen Wirksamkeit). Unberührt bleiben damit die Wirkungen der Allgemeinverfügung gegenüber den übrigen Betroffenen.18

 

Abb.: 3

Abgrenzungsmerkmal Rechtsverordnung Allgemeinverfügung
1 Adressatenkreis abstrakt-generell konkret-generell
2 Regelung Rechtsnorm Verwaltungsakt
3 Formell-rechtliche Voraussetzungen Rechtssetzungs-verfahren Verwaltungsverfahren (s. § 9 VwVfG)
4 Wirksamkeitsvoraussetzung Verkündung Bekanntgabe (§ 43 VwVfG)
5 Rechtsfolgen der Rechtswidrigkeit Nichtigkeit Regelmäßig Wirksam-keit; nur ausnahmswei-se Unwirksamkeit
6 Rechtsschutz Normenkontrollverfah-ren in einigen Ländern (§ 47 VwGO) (ggf.) Widerspruch und Klage

 

  1. Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Allgemeinverfü-gung

Hinsichtlich der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen gibt es keinen nennenswerten Unterschied zum Verwaltungsakt i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG. Auch die Allgemeinverfügung muss dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit genügen (vgl. Art.20 Abs. 3 Grundgesetz). So muss, soll eine eingreifende Allgemeinverfügung erlassen werden, der Vorbehalt des Gesetzes beachtet werden. Die zuständige Behörde be-nötigt damit für die geplante Maßnahme eine Ermächtigungsgrund-lage. Auch muss der Vorrang des Gesetzes19 berücksichtigt werden. Damit muss die Allgemeinverfügung in formeller und materieller Hinsicht mit der Rechtsordnung im Einklang stehen. Nur in engen Grenzen sieht das Verwaltungsverfahrensgesetz für die Allgemein-verfügung gewisse Abweichungen gegenüber einem Verwaltungsakt i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG. Die Abweichungen betreffen:

  • § 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG (kein Anhörungserfordernis)
  • § 39 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG (keine Begründungspflicht im Falle der öffentlichen Bekanntgabe der Allgemeinverfügung)
  • § 41 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 4 VwVfG (erweiterte Möglich-keit der öffentlichen Bekanntgabe)

Die Allgemeinverfügung nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz

  1. Wirksamkeit und Bekanntgabe einer Allgemeinverfügung

Damit eine Allgemeinverfügung wirksam wird, bedarf sie der Be-kanntgabe (§ 43 Abs. 1 VwVfG). Sofern keine Sonderregelungen bestehen,20 beurteilt sich die Frage der Bekanntgabe der Allgemein-verfügung nach den Vorgaben des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Auch hier greift der § 37 Abs. 2 Satz 1 VwVfG. Regelmäßig wird die Allgemeinverfügung – in einer konkreten Situation – mündlich oder aber durch öffentliche Bekanntgabe bekannt gegeben. So darf ein Verwaltungsakt nach § 41 Abs. 3 Satz 1 VwVfG öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist.21 So sieht beispielsweise das Straßenrecht vor, dass Widmungen öffentlich bekannt zu geben sind (vgl. nur § 2 FStrG, § 6 Abs. 3 Nds. Stra-ßengesetz; § 36 Abs. 3 Landestraßengesetz Rheinland-Pfalz). Eine Allgemeinverfügung darf nach § 41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG auch dann öffentlich bekannt gegeben werden,wenn eine Bekanntgabe an die Be-teiligten untunlich ist. Untunlich bedeutet dabei, dass die individuelle Bekanntgabe wegen der Natur der Sache nicht möglich oder aber mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre.22 Gerade bei eilbedürf-tigen Allgemeinverfügungen im Bereich der Gefahrenabwehr kann es untunlich sein,auf eine individualisierte Bekanntgabe zu setzen.§ 41 Abs. 4 VwVfG bestimmt die Form der öffentlichen Bekanntgabe. Re-gelmäßig gilt der Verwaltungsakt zwei Wochen nach der ortsüblichen Bekanntmachung als bekannt gegeben (§ 41 Abs. 4 Satz 3 VwVfG). Nach § 41 Abs. 4 Satz 4 VwVfG kann in einer Allgemeinverfügung ein hiervon abweichender Tag, frühestens jedoch der auf die Bekannt-machung folgende Tag, vorgesehen werden.

  1. Ein kurzer Blick auf das Sozialgesetzbuch und die Abgaben-ordnung

Auch die Abgabenordnung (AO) und das Sozialgesetzbuch (SGB) kennen die Handlungsform Allgemeinverfügung (vgl. § 118 Satz 2 AO und § 31 Satz 2 SGB X). Die praktische Bedeutung der Allge-meinverfügung ist im Bereich des Sozialrechts aber eher gering.23 Dabei ist zu beachten, dass die hier anzutreffenden Massenverwal-tungsakte keine Allgemeinverfügungen sind, da diese jeweils be-stimmte Regelungen enthalten, die einem konkreten Adressaten zuzuordnen sind. Im Anwendungsbereich der AO können dagegen Allgemeinverfügungen schon vorkommen. So ist diese Handlungs-form beispielsweise ausdrücklich im Gesetz vorgesehen für Zurück-weisungen von Einsprüchen, wenn ein Musterverfahren vor dem EuGH, dem BVerfG oder dem BFH keinen Erfolg gehabt haben (§ 367 Abs. 2b AO).24

 

  1. Vertiefungshinweise

 

  1. a) Rechtsprechung

BVerwGE 12, 87 (Klassiker: Endiviensalat)

BVerwGE 70, 77 (Abgrenzung Rechtsverordnung von der Allge-meinverfügung)

BVerwGE 102, 316 (Verkehrszeichen) BVerwG NJW 2011, S. 246 (Verkehrszeichen)

OVG Münster NWVBl. 2012, S. 431; vgl. dazu auch Vahle, Jürgen, DVP 2012, S. 432 (Glasverbot im Kölner Karneval)

OVG Lüneburg NVwZ-RR 2005, S. 93 (sog. Sammelbescheid [Räumungsverbot gegen Wagenburgteilnehmer])

OVG Hamburg NördÖR 2018, S. 42 (Versammlungsverbot [G 20-Gipfel])

 

  1. b) Literatur

Weidemann, Holger,VR 2002, S. 104 ff. (Fallbearbeitung: Der neue Fußweg)

Schoch, Friedrich, Jura 2012, S. 26 ff. (Die Allgemeinverfügung [§ 35 Satz 2 VwVfG])

Hennecke/Berger in: Knack/Hennecke, VwVfG-Kommentar, 11. Aufl., § 35 Rn.195 bis 208


 

*     Prof. Holger Weidemann war viele Jahre Vizepräsident der Kommunalen Hoch-schule für Verwaltung in Niedersachsen (HSVN) und Ausbildungsleiter des Niedersächsischen Studieninstituts.

** Diese Lösungsskizze bezieht sich auf die Online-Fallbearbeitungin der DVP 10-2021 S. 403 ff.

1     Zu weiteren Stationen einer zulässigen Klage s. Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorenexamen im Öffentlichen Recht, 14. Aufl., S. 43 ff.; einen Überblick zur Zulässigkeit einer Anfechtungsklage geben Suckow/Weidemann/Barthel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl., Rn. 408a–410c.

2     So bereits OVG Lüneburg DVBl. 1964, S. 153 f. [153 f.]; grundlegend Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Aufl., Rn. 254 m.N..

3     Grundlegend zur Statthaftigkeit eines Widerspruchs s. Suckow/Weidemann/ Barthel, Fn. 1, Rn. 436–446.

4     S. auch Jochum/Hartmann/Mann/Mehde (Hrsg.), Landesrecht Niedersachsen, 3. Aufl., S. 74 ff.

5     Maurer/Waldhoff,Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl., § 8 Rn. 8 ff. 6     Vom Abdruck wurde abgesehen.

5     Vgl.Hildebrandtin:Hofmann/Gerke/Hildebrandt,AllgemeinesVerwaltungs-recht, 11. Aufl., Rn. 343.

6     Vgl. BVerwGE, 69, 315.

7     Suckow/Weidemann, Fn. 1, Rn. 104 m.N.

8     Stuhlfauth,in: Obermayer/Funke-Kaiser (Hrsg.), § 35 Rn. 127. 9     Hennecke/Berger,Fn. 4, § 35 Rn. 204 m. Anwendungsbeispielen.

10 Die Rechtsnatur des Verkehrszeichens ist in der Vergangenheit äußerst kontro-vers diskutiert worden. Verkehrszeichen wurden entweder als Rechtsverordnung (s. nur VGH München NJW 1978, S. 1988 ff.) oder als Allgemeinverfügung eingestuft. Mit dem Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes hat dann der Gesetzgeber diese Kontroverse zugunsten der Allgemeinverfügung entschieden (s. U. Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrens-gesetz-Kommentar, 9. Aufl., § 30 Rn. 330 m.N.). S. Ferner BVerwG NJW 2011, S. 246; BVerwGE 59, 221; 92, 32; 102, 316. Vertiefung Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl., § 9 Rn. 35 ff. m.N.

11 S. OVG Münster, KStZ 1970, S. 30.

12 VGH Kassel, DÖV 1989, S. 358. 13 S. nur BVerwGE 70, 77 [81].

14 S. Art. 80 GG und beispielsweise Art. 43 ff. Nds. Verfassung; wird eine kom-munale Rechtsverordnung erlassen, sehen die Kommunalverfassungsgesetze entsprechende (Verfahren-)Regelungen vor; z.B. § 10 Abs.6 und 11 Abs.6 Nds. Kommunalverfassungsgesetz.

15 Die Landesverfassungen enthalten ebenfalls entsprechende Rechtsgrundlagen; s. beispielhaft Art. 43 Nds. Verfassung.

16 S. § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO; hiernach entscheidet das Oberverwaltungs-gericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von Satzungen, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen worden sind, sowie von Rechtsverordnungen aufgrund des § 246 Abs. 2 des Baugesetzbuchs.

17 Nach § 68 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO ist vor Erhebung der Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage ein Vorverfahren durchzuführen, sofern nicht eine Aus-nahme nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorliegt. In einigen Bundesländern ist das Vorverfahren deutlich zurückgedrängt worden; s. beispielsweise § 80 Nds. Justizgesetz. Sofern ein Vorverfahren entbehrlich ist, ist unmittelbar verwal-tungsgerichtliche Klage zu erheben.

18 EingehendRamsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG-Kommentar, 20. Aufl., § 35 Rn. 161.

19 Zu den Begrifflichkeiten Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes s. nur Suckow/ Weidemann,Fn. 1, Rn. 26 ff.

20 S. beispielsweise die Bekanntgabe von Verkehrszeichen. Diese werden nach heutiger h.M. durch die Aufstellung nach den Vorschriften der StVO bekannt gegeben; vgl. nur BVerwGE 154, 354; 130, 383. Vertiefung s. Ruffert,in Knack/ Hennecke, Fn. 4, § 41 Rn. 62 ff. m.w.N.

21 Grundlegend zur öffentlichen Bekanntgabe eines Verwaltungsakts s. Weide­ mann/Rheindorf,DVP 2012, S. 310 ff.

22 Stuhlfauth,Fn. 8, § 41 Rn. 51.

23 Engelmann, Klausin: Schütze, Bernd, (Hrsg.), Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz Kommentar, 8. Aufl., § 31 Rn. 37a.

24 Vgl. auch Ratschow in: Klein (Hrsg.), AO-Kommentar, 13. Aufl., § 118 Rn. 39.